Am Ende der Vernunft
Hörspiel
von Paul Wlaschek © 2024
Personen:
Jens, alias Dr. Jens Wohlthat, 35 Jahre, Doktor der Philosophie, arbeitet als Paketbote
Fedder, 30 Jahre, Mitbewohner in der WG
Rena, 28 Jahre, Mitbewohnerin in der WG
Ort der Handlung: die WG Küche
[Entfernte Straßengeräusche durch ein offenes Fenster. Während des ersten Teils des Stückes wird immer wieder mit Küchengerät hantiert. Eine Zeitung raschelt]
Fedder [abwesend murmelnd]: Du bist der letzte Mensch, den ich kenne, der noch eine Papierzeitung bekommt.
Jens: Ich habe gerne was in der Hand, es riecht nach Zeitung, es raschelt beim Umblättern. Und wenn man sich ärgert, kann man das Papier zerknüllen und in die Ecke feuern.
Fedder [abwesend murmelnd]: Zugegeben, ein wirklich praktischer Vorteil.
[Das Fenster wird geschlossen. Die Straßengeräusche im Hintergrund verstummen]
Jens [ratlos]: Was ist das denn?
Rena: Was?
[Schritte] Das ist ja ein Ding! Hört mal!
Für unseren Mandanten suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen
[jetzt betont:] Exekutor als Mitarbeiter im Justizministerium mit Verantwortung für die Hinrichtung rechtskräftig verurteilter Delinquenten.
Einsatzort ist Arasanabad, Republik Baturai.
Der Kandidat muss über eine umfassende [jetzt gedehnt:] geisteswissenschaftliche Ausbildung verfügen, insbesondere einen Universitätsabschluss in Philosophie und Staatskunde besitzen, Kenntnisse in Geschichte, Ethnologie oder Sozialpsychologie sind von Vorteil.
Die Stelle ist allerbestens dotiert. Der Arbeitgeber bietet zusätzlich Dienstwohnung und Dienstwagen. Ihre aussagekräftigen Unterlagen … und so weiter.
[Ein Topf wir geräuschvoll abgestellt]
Fedder [aufgeregt]: He, das ist deine Stelle, Jens! Philosophie und Staatskunde! Schluss mit der Arbeit als akademischer Paketbote.
Rena [schnaubt]: Du hast sie wohl nicht alle?! Überhaupt, warum braucht man ein Philosophiestudium, um Menschen umzubringen?
Jens: Ich kann mir gut vorstellen, dass die Auftraggeber jemanden suchen, der der Schwere dieses Amtes von seiner Persönlichkeitsbildung her gewachsen ist. Außerdem ist es ja auch eine nicht unerhebliche ethische Herausforderung.
Rena: He? Du willst doch jetzt nicht sagen, besser töten mit Philosophie? Höre ich zum ersten Mal.
Jens: Alle Menschen, die töten, also Soldaten, Polizisten, was weiß ich, bekommen Seelsorge, Supervision, Traumatherapien, Kriseninterventionen und und und. So gesehen ist es eigentlich ein ganz logischer Schritt, einen philosophisch und ethisch vorgebildeten Menschen zum Scharfrichter zu machen.
Fedder: Der Sache müsste man mal nachgehen. Müsste sich einfach mal jemand bewerben, jemand Philosophisches, jemand Staatskundliches. Ist ja erstmal komplett unverbindlich. Ein Abenteuer, wie man es nicht oft erlebt.
[Besteck wird geräuschvoll in eine Schublade geworfen]
Rena [temperamentvoll]: Ihr habt doch beide einen Knall, oder?
Fedder: Wieso? Jens könnte einen Zeitungsbericht darüber verfassen oder sogar ein Buch schreiben. Das ist seinem Abschluss als promovierter Philosoph allemal besser angemessen, als Hundefutter und Damenschuhe in der Stadt rumzukutschieren.
[Die Küchengeräusche verstummen]
Rena [lauernd]: Du bist so still, Jens?!
Jens [nachdenklich]: Was mag wohl eine ‚allerbeste‘ Dotierung sein? Ich meine, ich renne mir Tag für Tag die Hacken krumm. Ich will auch irgendwann mal was vom Leben haben! Das Stück Zukunft, das mir zusteht. Genau dieses Stück, nicht mehr und nicht weniger!
[Jemand tippt auf einer Tastatur]
Fedder: Na, Hunderttausend sind schon nicht schlecht, aber das ist bestenfalls eine gute Bezahlung, meinetwegen eine besonders gute. Aber „allerbeste“? Da muss man sicher noch gehörig was drauflegen. Guck mal hier, ich habe mal Baturai gegoogelt. Sieht aus wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Also, vor die Wahl gestellt …
Rena [unterbricht]: Moment, ganz kurz: vor die Wahl gestellt, ob man für Geld Menschen tötet, entscheidet ihr euch nochmal wofür? Hier [sie haut auf die Papierseite] geht es um das ganz persönliche Töten von Menschen. Von Angesicht zu Angesicht. Und die Delinquenten scheißen sich ein vor Angst.
Fedder: Wenn die rechtskräftig verurteilt sind? Ich meine, wenn es da Gesetze gibt und die verstoßen dagegen…
Rena: Mensch, seid doch nicht so naiv! Wo bleiben denn die schwer erkämpften Werte unserer Zivilisation??? Treten wir das jetzt alles in die Tonne?
Jens: Die Zeit der Vernunft und der Aufklärung geht doch gerade allerorten zu Ende. Herrenmenschen schmieden Demokratien zu Parteiapparaten um, Antibiotika wirken nicht mehr, weil man sie an Schweine verfüttert, Mütter verbringen mehr Zeit mit dem Handy als mit dem Baby. An die Stelle der Vernunft ist längst der Kompromiss zugunsten egoistischer Interessen getreten. Da gestatte ich mir schon die Frage, in wieweit ich gesellschaftliche Erwartungen noch erfüllen soll.
Rena [schreit]: Das Ende der Vernunft, ja …?! [Schnelle Schritte. Eine Tür knallt]
Jens [ruft ihr nach]: Ich mache nicht die Regeln, ich spiele nur das Spiel.
Fedder: [Papier raschelt] Hier ist die Adresse für die Bewerbung.
[Die Seite wird aus der Zeitung gerissen]
Ende