Autopsi eines Boomers
von Paul Wlaschek (c) 2023
Ich liege im Dunkel der Kühlkammer, ein Tuch – vermutlich grün – über mich ausgebreitet. Völlig unklar, wie lange ich hier so liege, bis plötzlich der Schnappverschluss der Kammertür geöffnet wird. Es dauert einige Momente, bis man den Zettel an meinem großen Zeh geprüft hat und man mich auf meiner Unterlage herauszieht. Offenbar ruckelt man die Unterlage auf ein rollbares Gestell und schiebt mich durch den Saal. Zumindest den hallenden Geräuschen nach zu urteilen ist es ein Saal, gewiss gekachelt. Als wir stehen bleiben, werde ich von kräftigen Händen gepackt und unsanft auf eine metallene Unterlage gewuchtet. Jemand kruschtelt herum, metallene Instrumente werden abgelegt, das Klöng-Geräusch von metallenen Nierenschalen ertönt. Nach einiger Zeit kommen Leute herein, junge Leute, den Stimmen nach zu urteilen. Ihr Schwatzen verstummt nach und nach.
„Meine Damen und Herren, willkommen in unserer Pathologie, mein Name ist Professor Doktor Wernecke und wir werden heute zusammen eine Sectio durchführen. Dass heißt, ich werde die Sectio durchführen und Ihnen die einzelnen Schritte erklären, die Sie sich bitte gut einprägen. Zusammen mit der Theorie, die Sie in der Vorlesung hören, wird das die Grundlage bilden für Ihre Sektionsübung in den kommenden Wochen. Wenn Sie Fragen haben, zögern Sie nicht, diese zu stellen, jetzt ist genau der Zeitpunkt dafür.“
Leises Raunen. Jemand zieht das Tuch über mir weg und ich liege nackt vor aller Augen auf dem metallenen Tisch.
„Wir führen Obduktionen durch, wenn die Staatsanwaltschaft dies anordnet oder wenn die Todesursache klinisch nicht festgestellt werden konnte. Neben der reinen pathologischen Befundung wird parallel eine toxikologische und mikrobiologische Diagnostik durchgeführt.“
Eine kurze Stille entsteht.
„Vor uns liegt eine männliche Leiche, 64 Jahre, Todesursache unklar.Wir werden zuerst eine äußerliche Untersuchung vornehmen. Körpergröße 1,80 m, Gewicht 90 kg. Wir beginnen am Kopf. Betrachten Sie den Kopf genau. Fällt Ihnen etwas auf? Ja, bitte?!“
„Eine kleine Narbe, ca. ein Zentimeter, zentral, leicht frontal.“
„Sehr gut. Die Wunde wurde nicht behandelt und ist unter leichter Narbenbildung von selbst verheilt. Muss ziemlich geblutet haben.“
Ich grübele. Dann fällt mir der Umzug von meinem Sohn ein. Ich hatte im Umzugstransporter eine unbedachte Bewegung gemacht und war mit dem Kopf heftig gegen einen Metallwinkel gestoßen. Ich hatte das erst nur ärgerlich abgetan, bis mich die Jungs entsetzt ansahen, weil mir das Blut über das Gesicht lief.
„Im übrigen unauffällig. Nun zu den Augen.“
Erst mein linkes, dann mein rechtes Auge wird geöffnet.
„Genau hinsehen! Der Tote trägt Kontaktlinsen. Hier im linken Auge leicht blau gefärbt, rechts farblos. Er hat offenbar regelmäßig die Linsen vertauscht und man hat ihm zur besseren Unterscheidung eine farbige gegeben.“
Mein rechtes Auge hat zum Schluss gar nicht mehr scharf gesehen. Arbeiten ging kaum noch. Früher, konnte ich die Masken für die Prozessoren noch unter dem Mikroskop prüfen, da waren die Schaltungen größer und die Augen noch jung. Mit der exponentiellen Miniaturisierung und der hohen Integration für Handys, Rechner, Internetserver ist das schon lange nicht mehr möglich. Kaum jemand weiß, welche unvorstellbare Präzision hinter der alltäglichen Netzwelt steckt. Der Professor öffnet meinen Mund.
„Wie Sie sehen, ist die Totenstarre bereits gewichen. Nun eine der wichtigsten Stellen: der Mund. Warum? Zum einen Identifikation. Wenn die Identität nicht klar ist, immer einen Zahnabdruck nehmen. Essensreste oder Reste von Erbrochenem sicherstellen. Sind Verletzungen etwa durch Bisse in Zunge oder Wange vorhanden? Auffälliger Geruch? Im vorliegenden Fall keine Auffälligkeiten. Bis auf die Weisheitszähne ist das Gebiss komplett. Hier hat der Zahnarzt etwas gepfuscht.“
Ha! Hab ich doch immer gesagt!
„Der Zahnstein ist dunkel, zu dunkel für Tee, also vermutlich Raucher. Zwei Goldkronen.“
Eine Rangelei bei der Anti-AKW Demo in Brokdorf. Das war eine Überraschung für meine Eltern, als sie die Rechnung erhielten. Naiv wie ich als Student war, dachte ich, das zahlt die Kasse.
„Oberkörper frontal unauffällig. Hier am rechten Oberarm und hier am rechten Oberschenkel finden wir jeweils die Narbe einer genähten Wunde. Sieht nach Gewebeentnahme aus.“
Ja, ja, das war, als ich diese komischen Verdickungen hatte. Ziemliche Aufregung, mein Hausarzt drängte mich, den anstehenden Urlaub zu verschieben. Man hat aber nie etwas Konkretes diagnostizieren können. Aber die Sorge bleibt natürlich, dass sie da etwas verschlampt haben.
„Gepflegte Fingernägel rechts länger als links. Was sagt uns das? Niemand? Nun, er war Rechtshänder und Gitarrenspieler.“
Stimmt genau. Deep River Blues. Sie liebte es, wenn ich Gitarre spielte.
„Am linken Ringfinger ein Ehering, den wir abziehen und zu den privaten Dingen legen.“
Der Ring tanzt hörbar noch einen kurzen Moment in der metallenen Schale, bis er verstummt. Mir bricht das Herz.
„Untersuchung des Rückens. Könnten Sie mal kurz mit anfassen? Hier sind Handschuhe. Auf den Bauch drehen.“
Mein Gesicht liegt jetzt auf der metallenen Unterlage, die eine niedrige Wanne ist und einen Abfluss hat.
„Der Tote hat eine leichte Skoliose, sehen Sie hier. Das ist nicht so selten. Hatte vermutlich Probleme bei längerem Stehen und Gehen.“
Hundertmal sagte sie, geh halt mal zu dem Osteopathen, von dem ich dir erzählt habe, der ist wirklich gut!
„Leichenflecken deutlich ausgebildet. Wir drehen ihn zurück – wären Sie nochmal so nett? – und kommen nun zur inneren Obduktion. Das bedeutet, Brust und Bauch zu öffnen und die entsprechenden Organe zu entnehmen, zu untersuchen und zu beproben.“
Deutliches Raunen.
„Y-Schnitt oder T-Schnitt? Geschmacksache würde ich sagen.“
Er setzt das Skalpell an und schneidet mit Schwung von Schulter zu Schulter, danach entlang der Körpermitte bis zum Schambein. Der Brustkorb wird mit etwas wie einer Geflügelschere geöffnet, das Geräusch fasst die Studenten merklich an.
„Ich entnehme das Herz. Bitte merken Sie sich die Schnitte hier, hier und hier. “
Seine behandschuhte Hand umfasst mein Herz. Wie oft hat das geschlagen? Zur Kubakrise schon hundertmillionen mal, zur Ölkrise über vierhundertmillionen mal, Maueröffnung eine Milliarde. Absolut phantastisch.
„Äußerlich unauffällig, leichte Ansätze von Fett.“
Die gute mediterrane Kost. Gegrillte Auberginen, Risotto mit Meeresfrüchten, dazu einen Grillo.
„Was fällt an der Lunge auf? Richtig: nichts. Erinnern Sie sich, dass ich sagte, er war Raucher? Die Lunge ist aber keine Raucherlunge. Er hat nicht auf Lunge geraucht. Zigarren vermutlich.“
Das samtweiche, dunkle Deckblatt zwischen den Fingern zu spüren und leicht hin und her zu rollen, die feste Konsistenz der Füllung, das leises Knistern. Lange her, konnte ich mir nicht mehr leisten.
„Hier unterhalb des Zwerchfells Magen, Milz, Bauchspeicheldrüse. Sehen Sie hier die Leber? Deutlich vergrößert, Ansätze von Fettleber. Eine Folge von reichlich Alkoholgenuss.“
Na ja, was sonst? Die Herrenrasse ist wieder auf dem Vormarsch, Krieg und Inflation kehren zurück. Fakten werden durch Meinungen ersetzt. Alte Frauen suchen nach Pfandglas im Müll, während sich andere Steuern erstatten lassen, die sie nie gezahlt haben.
„An dieser Stelle nun meine Frage: Was war die Todesursache? Alle Untersuchungen haben keinen Befund ergeben. Woran ist unser Freund hier gestorben?“
Murmeln.
„Ich gebe Ihnen einen Tipp: sehen Sie sich die rosige Hautfarbe an, das leuchtend rote Gewebe hier im Bauchraum. Keine Idee? Nun, alles deutet auf Kohlenmonoxidvergiftung hin. Die Haut des Toten erscheint nicht wie üblich grau, sondern geradezu gesund. Eine nicht unübliche Methode des Suizids.“
Irgendwo auf einer Waldlichtung, das kleine Zelt mit den abgeklebten Luftschlitzen, eine Schale mit Grillkohle und das Bild meiner Frau.
„Wir geben die entnommenen Organe nach dem Wiegen, Fotografieren und Beproben wieder in den Körper. Eventuelle entstandene Hohlräume füllen wir mit Zellstoff. Bei der Naht beachten Sie, dies ist keine Wundnaht. Soweit für heute. Ich sehe Sie dann zu Ihren ersten Sektionsübungen nächste Woche.“