Richter – ein aussterbender Beruf

Richter – ein aussterbender Beruf

von Paul Wlaschek (c) 2023

Gerechtigkeit? Das weiß man doch, was das ist. Das ist ein Gefühl im Bauch, ob etwas richtig läuft oder falsch. Und dieses Gefühl hat jeder Mensch. Und da ist auch schon das Problem: jeder hat seine eigene Gerechtigkeit. Wie wichtig also, dass es da eine ordnende Hand gibt. Und zwar genau eine. Nämlich die gütige, strenge und weise Hand unseres Präsidenten.

Wir wählen ihn ja deswegen alle vier Jahre, ihn und seine Partei. Früher hatte man viele Parteien, viele Meinungen, unterschiedliche Weltanschauungen. Was war das für ein Chaos, man wird sich erinnern. Sogenannte Debatten in den Parlamenten, wenn denn die Abgeordneten mal im hohen Haus anwesend waren. Aufgeregte Wortgefechte, persönliche Animositäten, lächerliche Schaukämpfe. Diese Art von politischem System führte dann konsequenter Weise dazu, dass alle genau wussten, was sie von dem Rest der Welt erwarteten, aber die Zustände wurden schlimmer und schlimmer und nichts, aber auch gar nichts änderte sich, zumindest nicht zum Besseren: Armut, Teuerung, Katastrophen, Krankheiten, und und und. Bis schließlich die eine, die richtige Partei die Macht ergriff. Sie konnte sich durchsetzen, da sie einfache, klare Lösungen bot, und dies hat die Mehrheit der Menschen schließlich überzeugt. Anderslautende Meinungen verstummten nach und nach. Die Verdrehung der Tatsachen durch sogenannte freie Medien wurde immer weiter eingeschränkt und durch die gesunde Meinung der Bevölkerung ersetzt. So kehrte die wohltuende Ruhe und Ordnung ein, nach der man sich doch so lange gesehnt hatte.

Was nun noch zu tun übrig bleibt, liegt auf der Hand. Im vordemokratischen Staatswesen, wo politische Eliten die Herrschaft über das Volk innehatten, und ein wildes Durcheinander von Meinungen, Interessen, Forderungen und Anklagen die täglichen Nachrichten bestimmten, war es nur folgerichtig, dass man nur zu häufig Gerichte bemühte, um ein Mindestmaß an Ordnung zu schaffen. Die hier tätigen Richter und Schöffen waren dabei nur ihrem persönlichen Gewissen verantwortlich und suchten nach einem in ihren Augen gerechten Ausgleich zwischen den streitenden Parteien. Das konnte natürlich nur zu einem unübersichtlichen Wirrwarr von Urteilen und Prozessausgängen führen und im Schutze dieses Wirrwarrs blühte das Unrecht. Für den einfachen Bürger war das Rechtssystem absolut undurchschaubar und es kursierte der Spruch: Auf dem Meer und vor Gericht sind wir alle in Gottes Hand, was so viel heißen sollte wie: der Ausgang eines Verfahrens ist nicht vorhersagbar. Es gab einen Wust an Gesetzen und Gesetzbüchern: Straf- und Zivilrecht, Steuer- und Wirtschaftsrecht, Familienrecht, Ausländerrecht, Patentrecht, Verwaltungsrecht, Prozessrecht und wer weiß was noch alles. Die Folge: überbordende Bürokratie und ewig lange Prozesse. Es gab Vergleiche gegen Zahlung von beträchtlichen Summen. Es gab Freisprüche oder zumindest Bewährungsstrafen für offensichtliche Straftäter, die somit direkt wieder in ihr Umfeld entlassen wurden, um neue Straftaten zu begehen. Es galten Unschuldsvermutung und das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“, die dem gesunden Menschenverstand und der öffentlichen Meinung mit der Hand ins Gesicht schlugen. Dann wieder wurden Ehrenmänner, die sich vorgeblich leichter Verfehlungen schuldig gemacht hatten, unnachgiebig verfolgt, noch dazu wenn ihre Handlungen zum Wohle der Bevölkerung erfolgten. Es wurden Verfahren ohne Ansehen der Person des Beklagten geführt, obwohl – oder gerade weil? – man genau wusste, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Menschen verschiedener Herkunft oder Kulturen gibt. Umgekehrt ließ man auch sogenannte „mildernden Umstände“ gelten, mit denen willkürlich die Verkommenheit einer Person als Grund für eine Strafminderung herangezogen werden konnte. Es gab Situationen, die mit dem Begriff „Aussage gegen Aussage“ umschrieben wurden und bedeuteten, ein ganz offensichtlich Schuldiger musste nur feist lügen – wenn ihm nichts nachzuweisen war, wurde er freigesprochen.

In vielen Ländern sah man früh diese Schwächen, um nicht zu sagen Probleme, die sich aus diesem unentschiedenen, uneindeutigen und unberechenbaren Rechtssystem ergeben und man strebte nach steuernden Eingriffen, indem man versuchte, die Gerichte der politischen Kontrolle zu unterwerfen, die Auswahl der Richter politisch zu begleiten und Richter für offensichtlich falsche Urteile zu belangen. Das waren erste, mehr zaghafte Bemühungen, die im Grunde versuchten, das Rechtssystem zu erhalten und im Sinne einer einfachen, klaren Rechtsordnung umzubauen. Ganz offenbar ist dies jedoch die umständlichste aller Lösungen und noch dazu eine unsichere. Richter fällen zuerst ihre eigenen, persönlichen Urteile, die danach von den Kontrollgremien auf ihre Richtigkeit geprüft werden müssen und gegebenenfalls einer notwendigen Korrektur unterzogen werden. Sanktionierung von Richtern ist ebenfalls eine postfaktische Methodik, wenn Richter nicht wissen, was genau man von Ihnen erwartet. Eine intensive Schulung ist hier unabdingbar. Die wirklich grundlegende, gradlinige, saubere Lösung jedoch besteht darin, Richter direkt durch Parteifunktionäre zu ersetzen. Diese sind von den Zielen der Gesellschaft und damit den Zielen der Partei getragen, wissen um gesellschaftliche Notwendigkeiten und besitzen die machtpolitischen Werkzeuge für eine Durchsetzung. Die Gerechtigkeit dieses vereinfachten Systems ist schon allein dadurch gewährleistet, dass das Volk, die Bevölkerung – also wir alle – ja diese Partei gewählt haben und wählen werden. Eine wahre Demokratie, also eine ehrliche Herrschaft des Volkes ist so erreicht, ohne eine Zwischenschicht aus Eliten und Experten, die durch Jonglieren mit willkürlichen Fakten Verwirrung stiften zu Gunsten der herrschenden Kaste. Die Gerichte der Zukunft werden eine wohltuende Strenge an den Tag legen, um die Vorgaben der Partei für eine bessere, sauberere, anständigere Gesellschaft effizient umzusetzen. Zu unser aller Vorteil. Und ohne Richter.