Einigkeit und Recht und … na …

Einigkeit und Recht und … na …

von Paul Wlaschek (c) 2023

Freiheit: was soll das eigentlich sein? Wenige Worte sind so ausgelutscht wie das Wort Freiheit. Wer sich der Bedeutung des Wortes Freiheit nähern will, so scheint es, muss zuerst einmal einen Haufen Müll beiseite kehren.

„Die Freiheit nehm’ ich mir.“ Wie frech und doch so selbstverständlich, mal eben von der Yacht zu springen und in einer Verkaufsbude am Strand mit einer Kreditkarte zu zahlen. Finanzielle Freiheit? Durch Sofortkredit! Motorrad? Freiheit! Zigarette? Der Duft von Freiheit und Abenteuer! Über den Wolken…! Vom Gleitschirm bis zum Tampon: Freiheit wohin man blickt. Die dazugehörigen Bilder zeigen Menschen sorgenfrei, symptomfrei, stressfrei. Indem sie sich des Begriffs der Freiheit bedient, kreiert die Werbung eine ideale Welt, die sich fast diametral der Wirklichkeit gegenüberstellt. Sie zeigt uns, wie sehr wir gefangen sind in unserem Alltag mit Terminhetze, Übergewicht, Nachbarschaftsstreit. Und sie zeigt uns, wo wir eigentlich hinwollen: in eben diese Freiheit. Allen Ballast, der an uns klebt und den niemand bestellt hat, einfach (!) abwerfen. Dann geht es uns gut. Dann sind wir frei. (Natürlich führt der Weg in diese wunderbare Welt zwangsläufig über den Erwerb der beworbenen Waren.)

Die Politik ist nicht weniger zimperlich, uns die Freiheit als rhetorische Postwurfsendungen in den Hals zu stopfen, als gälte es, eine Gans bis zum Hirnstillstand zu mästen. Freiheit statt Sozialismus. Natürlich. Freie Fahrt für freie Bürger! Wo kämen wir hin andernfalls? Und vor allem, wann kämen wir dorthin? Frieden und Freiheit! Freiheit und Sicherheit!

Also schieben wir das alles mit einem Seufzer der Genervtheit und der Erleichterung beiseite! Weg mit dem Wortmüll. Schuldenfrei. Rohrfrei. Feuer frei.

Als nächst tiefergelegene Schicht erscheint beim Abschichten unseres Begriffes jene Freiheit, aus einem schier unendlichen Spektrum von Produkten und Dienstleistungen das auszuwählen, was mir gefällt, was zu mir passt, was mich ausmacht. Meinen Strom- und Gasversorger kann ich nach Belieben wechseln, ebenso meine Autoversicherung, meinen Mobilfunkprovider. Ich kann meine Zahnpasta auswählen, meinen Kleidungsstil, meinen Urlaubsort und so weiter bis zum Pizzabelag. Freiheit? Im Ernst jetzt? Es stellt sich das Gefühl ein, dass wir eigentlich keine wirklichen Probleme haben. Freiheit muss doch noch etwas viel Grundlegenderes sein. Also schürfen wir noch tiefer.

Da sind wir schnell bei dem ebenso universellen wie ausgeleierten Gemeinplatz „Meine Freiheit endet dort, wo deine Freiheit beginnt“. Das gibt uns etwas Boden unter den Füßen, so scheint es. Wir wissen zwar immer noch nicht, was Freiheit eigentlich ist, aber immerhin erfahren wir etwas über die Grenzen der Freiheit. Und wir stellen immerhin eine Verbindung her zu handfester Philosophie: der Kategorische Imperativ steht da wie ein Fels in der Landschaft.

Betrachten wir das Ganze doch mal unter der bewährten Lupe der konkreten Wirklichkeit. Ich plane einen Ausflug, sagen wir: ein Picknick im Park. Ich kann den Zeitpunkt und den Ort wählen, kann mich für Kartoffelsalat oder Baguette entscheiden. Nun komme ich an, und siehe da, die halbe Stadt ist – dem schönen Wetter geschuldet – ebenfalls im Park. Und auf der Liegewiese sind bereits zahllose Decken ausgebreitet, Kinder spielen fangen, Hunde jagen Frisbees, Radios dudeln. Da endet also denn meine Freiheit. Ich hätte ja auch nach Rovinj auf die Segelyacht fahren können, nur gehört die leider dem Firmenchef.

Ziehen wir die Schraube noch eine Umdrehung weiter an, indem wir dorthin schauen, wo die Freiheit bedroht ist oder gleich ganz fehlt. Gemeint sind Länder, in denen man nicht die uns völlig selbstverständlich gewordenen Möglichkeiten hat, zu sagen, was man denkt, zu demonstrieren, zu schreiben und zu lesen, was wahr ist, und zu wählen. Solche „Nachrichtenländer“ scheinen, wenn man die Nachrichten verfolgt, mühelos in der Überzahl zu sein. Mehr noch, bildet sich offenbar ein neues Blocksystem heraus von „westlichen“, also der Freiheit verschriebenen Ländern gegen solche, in denen straflos und beliebig die Wahrheit verdreht, das Recht gebeugt, die Bürger unterdrückt und ermordet werden können.

Na, da haben wir doch unsere Freiheit?! Freiheit als Abwesenheit von Unfreiheit! Aber ein weiteres Mal erscheint der Freiheitsbegriff hier als etwas Abstraktes, etwas Gewolltes. Denn im Kern dieser Betrachtung stellen diese Sachverhalte doch in erster Linie eine Einschränkung und Verletzung der Gerechtigkeit dar. Es geht um Grund-Rechte, um Menschen-Rechte, um Bürger-Rechte. Gerechtigkeit ist ein viel praktischerer, ein viel handhabbarer Begriff. Und ein viel entlarvenderer.

Zum einen ist es intuitiv klar, was gerecht ist. „Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drang, ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ (Goethe, Faust 1). Wir haben ein Gerechtigkeitsgefühl. Sogar bei Primaten hat man ein Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit nachgewiesen. Zugegeben, das Gefühl ist subjektiv und mein Gegenüber, mit dem ich mich gerade zoffe, hat auch ein Gerechtigkeitsgefühl, welches mit meinem im Ergebnis mitnichten übereinstimmen muss. Aber es gibt auch unbeteiligte Dritte, die über Streit entscheiden können. Und es gibt allgemein akzeptierte Verfahrensweisen, wie man in einem Streitfall zu einem Ergebnis kommt.

Zum anderen ist Gerechtigkeit entlarvend. Wir alle, jeder ist für Gerechtigkeit. Klar. Was wäre man auch sonst für ein Unmensch. Im öffentlichen Diskurs jedoch erfährt man regelmäßig von erstaunlichen Bemühungen, sich Gerechtigkeit gehackt zu legen. Dabei ist der Trickbetrüger an Omas Haustür ja fast noch ein Ehrenmann, eben sich des rechten Weges wohl bewusst. Aber zum Beispiel mit dem Brustton der Rechtschaffenheit Steuerschlupflöcher zu nutzen und Milliardensummen zu hinterziehen, oder – noch besser – sich Steuern erstatten zu lassen, die man niemals bezahlt hat. (Tschuldigung, die Freiheit nehm ich mir.) Oder schauen wir auf die Schere von Einkommens- und Vermögensungleichheiten, die den Sonnenkönig und alle Feudalfürsten erblassen ließen. Das ist die neoliberale Interpretation von Gerechtigkeit: jeder sorgt für sich und so ist für alle gesorgt. Schulen, Straßen, Krankenhäuser? Wer braucht das?

Nun müssen wir also auf der Suche nach der Freiheit den Begriff Gerechtigkeit sezieren. Und schon hören wir von weitem: Gerechtigkeit, gibt’s doch gar nicht. Ein schönes Ideal. Unerreichbar. Recht haben und Recht bekommen… Ist das so? Kann man Gerechtigkeit nicht erreichen oder geben wir uns nur nicht genug Mühe? Zumindest in die Nähe zu gelangen? Warum ist es so schwer, „Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben“?

Hier nun der Verdacht: Gerechtigkeit erfordert ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit, nur – der Boden für diese Gemeinsamkeit, der Bereich den wir allesamt gleichzeitig für wahr halten, der „Common Sense“ schmilzt unter unseren nervösen Füßen wie die Eisschollen der Polarbären. Wir finden in Argumentationen nicht mehr zueinander, können nicht mehr zueinander finden, weil wir auf völlig verschiedenen Eisschollen unterwegs sind. Was du sagst, interessiert mich nicht und zwar ganz einfach deshalb, weil du deine Schlüsse aus völlig falschen Grundvoraussetzungen ziehst. Ex falso quodlibet. Mit anderen Worten: du bist blöd.

War das jemals anders? Sicher hat das Internet jedwedem und jedweder die Macht gegeben, eine ganz persönliche Wahrheit zu destillieren und der Öffentlichkeit zu verabreichen und das macht die Suche nach einem Common Sense ganz gewiss nicht leichter. Aber wenn man an die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland zurückdenkt, war auch dort – im Wortsinn – ein Hauen und Stechen, gegen die ein heutiger Shitstorm wie ein etwas schläfriges Computerspiel wirkt. Also kein Common Sense? Keine Gerechtigkeit? Keine Freiheit (ausser der Wahl des Pizzabelags, natürlich)?

Geben wir die Hoffnung nicht auf. Suchen wir das Positive im Negativen. Arbeitskräftemangel wird zu Immigration und Integration führen. Extreme Wetterphänomene beflügeln die Hilfsbereitschaft für die Opfer. Veröffentlichungen von unsauberen Masken-Deals empören eine einhellige Öffentlichkeit. Zugeparkte und mit Autos geflutete Innenstädte regeln den Verkehr für Pandas und X9 gleichermaßen. Die Realität ist letztlich eine harte Betonwand, die auch dann nicht verschwindet, wenn man sie an-gendert. Sie ist jene Wahrheit, die alle gleichzeitig für wahr halten, ob wir sie schön finden oder nicht.

Also Einigkeit. Und Recht. Und … na…