Zwo ZKB
von Paul Wlaschek (c) 2023
An einem späten Samstagmorgen, der bei anderen Menschen auch als früher Nachmittag durchgehen mag, kommen wir bepackt mit unseren Einkäufen nach Hause. Ich erinnere mich noch, es ist Januar, aber es ist geradezu grell sonnig und die Luft ist mild. Einkaufen am Samstag ist immer wieder etwas Besonderes. Wir haben Zeit. Zeit zu stöbern, Zeit zu probieren. Zeit für uns. Der kleine Markt ist immer bunt von Käufern und Waren. Auf dem Platz nahe dem Bahnhof sitzen die Menschen mit Sonnenbrillen im verklärten Mittagslicht, trinken Kaffee und verbreiten eine Stimmung von Urlaub, von Fernweh. Die Semmeln beim Bäcker sind heute wieder mal sehr dunkel. „Warum sind die Semmeln so braun?“ frage ich die junge Verkäuferin. „Die waren zu lange im Ofen!“ antwortet sie mir mit sachkundigem Blick. Aha, danke. Als ich mit meiner Tüte wieder vor dem Laden stehe, sehe ich, dass sie mir zehn Euro zu viel herausgegeben hat. Also zurück in den Laden. „Sie haben mir zu viel herausgegeben“, winke ich mit dem Geldschein. Sie erschrickt: „Oh je, wie viel bekommen Sie denn noch?“ Ich schaffe es, das Missverständnis aufzuklären. Auf dem Heimweg treffen wir den alten Mann, der immer sein klappriges Fahrrad neben sich her schiebt. Heute ist es mit ein paar Tüten behängt. Das Rad ist sein Rollator. Wir haben ihn nie fahren sehen, immer nur schieben. Olli führt Emma an der Leine aus, sie freut sich schwanzwedelnd, als sie uns erkennt. „Muss mein Rad suchen. Ich muss es gestern auf dem Heimweg irgendwo liegengelassen haben. Ich war auf einer Gin-Verkostung.“ Er kichert. Wir kichern. So trudeln wir mit unseren Taschen und Tüten in den engen Gang vor der Haustür und meine Liebste nestelt den Schlüssel aus der Tasche, öffnet noch schnell den Briefkasten, das übliche Zeug, ein, zwei Rechnungen, und …
Post vom Vermieter. Säuberlich. Korrekt. Einschreiben. Wir sehen uns an und verstärken so gegenseitig unsere unguten Vorahnungen. Eine Mieterhöhung kann es nicht sein. Die hatten wir erst vor wenigen Monaten, Regelerhöhung immer streng nach dem Mietspiegel. Wir wälzen uns mit den voluminösen Einkäufe durch den Flur und durch die Wohnungstür, den Brief wie ein aussätziger Fremdkörper zwischen uns. Das Aufatmen nach dem Schließen der Wohnungstür hinter uns entfällt an diesem Samstag. Meine Liebste öffnet den Brief mit einem Küchenmesser. Ich sehe ihr Gesicht. Ich blicke auf den Brieftext: Eigenbedarfskündigung! Eine Weile sitzen wir schweigend auf der Arbeitsplatte in der winzigen Küche. Ein Brief, und unser ganzes Leben wird auf den Kopf gestellt. Der Boden wird uns buchstäblich unter unseren Füßen weggezogen. Der Blick durch das immer irgendwie schmutzige Küchenfenster hat sich verändert, obwohl draußen alles beim alten ist. Bisher war das unsere Straße. Jetzt gehören wir hier nicht mehr hin.
Im Grunde haben wir es immer gewusst, dass so etwas passieren könnte. Zumal in dieser Zeit, in dieser Stadt. Aber, hey, das war immer unsere Wohnung. Unser Leben war so federleicht hier. Weißt du noch, als ich das erste mal mit zu dir kam, in diese Wohnung, die damals noch deine Wohnung war? Wir waren so unglaublich ineinander verliebt, schon seit Wochen. Aber wir haben uns nicht getraut. Ich habe mich nicht getraut. Und dann unsere erste Nacht, nebeneinander im Bett, eng umschlungen, du in meinem Arm. Und dann bin ich ohne viel Federlesen bei dir eingezogen. „Es klappt so gut mit uns hier in der Wohnung“, hast du gesagt. Morgens saßen wir auf der kleinen Veranda und haben unseren Morgenkaffee getrunken. Immer wurdest nur du von der Sonne beschienen und ich habe dich von der Seite ansehen können, wie das Licht auf deinen Haaren spielte, wie es deine Augen zum Leuchten brachte. Und wie wir in der engen Küche zu zweit gekocht haben! Jeder achtete auf die Bewegungen des anderen und völlig reibungslos konnten wir nebeneinander arbeiten, Wein trinken, lachen. Wir haben überhaupt so viel gelacht in dieser Wohnung. So viel. Weißt du noch, als wir den Hund von der Sandbank im Fluss retten mussten? Mitten im März. Richtig kalt war das und wir haben uns, als wir endlich wieder zu Hause waren, zu zweit in die enge Wanne im Bad gezwängt mit heißem Wasser und einer Flasche Schnaps, um uns wieder aufzuwärmen. Und die Feiern im Wohnzimmer, den Tisch in die Mitte gerückt, damit alle Platz fanden. Oder die langen Winterwochenenden auf dem Sofa unter der Decke, weil es wegen der dusseligen Fenster nie richtig warm wurde, mit einem Stapel DVDs unserer Lieblingsserie vor uns.
Jetzt stapeln sich Kartons im Wohnzimmer. Und im Flur. Und ein paar im Schlafzimmer. Küche und Bad packen wir zuletzt, weil wir die Sachen dort am längsten brauchen. Die schweren Kisten nach unten. Bücherkisten nur halb voll. Werkzeug liegt herum. Die Katze bringt eine tote Maus herein, als wollte sie uns umstimmen, hier zu bleiben. Sie versteht überhaupt nicht, was wir da für ein Chaos veranstalten und ist auch absolut nicht damit einverstanden, das kann man ihr anmerken. Wir reden wenig, sachlich, nur das Nötigste. Die Blumen, die in dem schattigen kleinen Garten überhaupt etwas geworden sind, vertrocknen, weil niemand sie mehr gießt. Wir bewegen uns seitwärts zwischen den Kartontürmen, wenn wir die Schere suchen, den Stift, oder weitere Kartons zum Auseinanderfalten.
Der Vermieter kommt mit seinem Sohn, um Umbauten zu planen. Mit weiträumigen Bewegungen räumen ihre Arme hier Wände beiseite, errichten dort neue, versetzen die Wanne, vergrößern die Veranda. Wir stehen zwischen den Kartons und versuchen, peinliche Gesprächspausen zu überspielen. An den Wänden zeichnen sich helle Stellen ab, wo die Fotos und Bilder hingen. Es ist noch ein Termin mit den Handwerkern nötig, das läßt sich doch sicher einrichten? Wann genau ist die Wohnung denn zur Übergabe bereit? Die beiden ziehen ab, in angeregte Diskussion über die Zukunft vertieft.
Das Schmerzlichste ist, dass wir gar keine Gelegenheit hatten, uns von unserer Wohnung richtig zu verabschieden. Von der Wohnung, in der wir so glücklich waren. Von einem Moment zum nächsten war es nicht mehr unsere Wohnung. Dann standen immer mehr Kisten im Weg, neben den leeren Schränken. Es sah nicht mehr aus wie unsere Wohnung. Es fühlte sich nicht mehr an, wie unsere Wohnung.
Mittwoch, nächste Woche Mittwoch passt es wegen der Handwerker. Am besten abends oder später Nachmittag.