Herz aus Stein

Herz aus Stein

von Paul WLaschek (c) 2024

Paul Wlaschek

Herz aus Stein

Die neuen Quantenröhren waren ein unglaublicher Erfolg. Taylor hatte sich selbst übertroffen, als er ein Muster nach den Berechnungen von Dr. Nö angefertigt hatte. Das perfekte Vakuum des Weltalls und die Schwerelosigkeit erlaubten Elektronenröhren von ungeahnter Qualität herzustellen. Das Muster war lediglich als dreistufiges System ausgelegt, das aus dem Stand durch quantenmechanische Überlagerung von Elektronenstrahlen stabile verschränkte Zustände herzustellen vermochte. Die Tests, die sie damit machten, waren sehr vielversprechend gewesen und danach stand einer Rechnerinfrastruktur auf der Basis von vielstufigen Röhren nichts mehr im Wege.

Dr. Nö machte sich sobald wie möglich daran, ältere Datensätze, die sie auf Magnetbändern gespeichert hatten, mithilfe dieser Rechnerinfrastruktur neu auszuwerten. Als sie sich über die Auswertung einer der Signalreihen durch die neuen, schnelleren Quantenröhren beugten, waren alle so perplex, dass erst mal niemand etwas sagte. URO pfiff durch ihre unregelmäßigen Zähne und Lozzi murmelte: Kugelflächenfunktionen, nicht jedermanns Hobby. Sie beriefen eine dringende Beratung ein und trafen kurz darauf mit dem üblichen Team in der Pantry zusammen. Die kleine Küche und der Sitzbereich waren wie alles im Schiff auf der Basis von Eisen, Glas und Emaille eingerichtet, was eine eigenwillige Atmosphäre aus einer Mischung von Futurismus und Historismus kreierte. Alle Technologie in ihrem Schiff, der Serenity, basierte auf möglichst einfachen, reparierbaren und recyclebaren Materialien, um auch eine sehr lange Mission immer aus Bordmitteln bestreiten und unterhalten zu können. So wurde im Wesentlichen Eisen und Quarzsand als Rohstoff eingesetzt, die man mit Hilfe der Wärmeenergie aus den Reaktoren immer wieder einschmelzen und reinigen konnte. Damit entstand an Bord eine Welt, die in mancher Hinsicht einem Krankenhaus der Fünfzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts nicht unähnlich war mit Glasgeräten und Emailleoberflächen, fluoreszierend grünen Röhrenbildschirmen und voluminösen Rechnereinheiten.

Die Pantry war vielleicht ein wenig zu eng für alle, denn Taylor und Dr. Nö mussten stehen, beziehungsweise lehnten an der Anrichte, aber die aufregenden Neuigkeiten ließen alle Unannehmlichkeiten sofort vergessen. URO informierte die neu Hinzugekommenen: „Ihr erinnert euch an III-Omikron-Sont? Wir sprachen vor ein paar Wochen darüber. Wir haben diesen Planeten übrigens Skalethos getauft, das macht das Reden einfacher. Wir haben, wie ihr euch erinnert, von dort einen stetigen Strom hochkomplexe Signale empfangen, ziemlich schwach. Inzwischen sind die Signale durch unsere Annäherung stärker geworden und wir konnten sie analysieren. Lozzi, willst du …?“ Lozzi richtete sich in dem metallenen Stuhl ein wenig auf: „Wir haben die aufgezeichneten Signale allen möglichen Analysen auf den neuen Quantenröhren unterzogen und die einzig mögliche Interpretation ist, dass es sich dabei um die numerische Berechnung von einem Satz von Kugelflächenfunktionen handelt. Also Funktionen, die ein Orthogonalsystem bilden und für die Beschreibung bestimmter radialsymmetrischer Probleme der Physik verwendet werden. “ „Was für Probleme zum Beispiel?“, wollte Friedel wissen. Dr. Nö fühlte sich angesprochen: „Elektronenorbitale von Atomhüllen in äußeren Feldern zum Beispiel, elektrische Feldkonfigurationen von unregelmäßigen Ladungsverteilungen, komplexe Bahnen um ein Gravitationszentrum, solche Sachen. Man nutzt sie für näherungsweise Berechnung durch Reihenentwicklung.“ URO wurde das alles zu speziell: „Egal. Wir haben es in jedem Fall mit einer offensichtlich hochintelligenten Spezies zu tun. Ich schlage vor, über einen Abstieg nach Skalethos abzustimmen.“ Friedel wiegte den Kopf: „Warum sollte jemand solche speziellen Zahlenreihen zu einer Kontaktaufnahme versenden? Würde man nicht eher ‚Hallo Welt‘ oder die neunte Sinfonie eines lokalen Meisterkomponisten dafür wählen?“ Dr. Nö widersprach: „Das können auch irgendwelche Skriptkiddies versenden. Für numerische Auswertungen der Kugelflächenfunktionen muss man schon ein gehöriger Fachidiot sein und ich weiß wovon ich rede.“ URO schmunzelte: „Abstimmung?“ Alle waren dafür. Es war ja auch ein ungewöhnlich klarer Fall, wenn ihre Mission diese Expedition nicht rechtfertigte, welche dann? Man vertagte sich für die weitere Planung, die jeder in seinem Fachgebiet vorbereiten sollte, Logistik, Messtechnik, Expeditionsprogramm, Annäherung und Einfangellipse. Die Analyse der Signale wurden unterdessen kontinuierlich fortgesetzt, soweit die Quantenröhren nicht für Kursberechnungen benötigt wurden, es ergaben sich aber keinerlei neue Erkenntnisse.

Die Wochen vergingen und die Serenity war bereits auf eine Ellipse um Omikron-Sont eingeschwenkt und näherte sich einmal alle circa 1500 Stunden dem Planeten III, alias Skalethos, auf einer Planetoidenbahn, die es erlaubte, den L.I.F.T. abzusenken und den Wohn- und Arbeitscontainer abzusetzen. Der L.I.F.T. oder ‚Leveraging Infrastructure using Ferrin Technology‘ war ein Landesystem, bei dem ein Container an acht Ferrin Nanodrähten abgesenkt wurde. Mit Ferrin hatten sie vor längerem schon eine spezielle Modifikation des Eisens entdeckt, die nur in der Schwerelosigkeit unter bestimmten Druck- und Temperaturbedingungen gefertigt werden konnte und die die Herstellung ultradünner, reißfester Drähte erlaubte. An Bord des Labor- und Wohncontainers waren URO, die die Expedition leitete und Lozzi, der die Datenverarbeitung und die Verbindung zur Serenity bewerkstelligen musste. Zuerst planten sie, Taylor mit seiner Glasbläserausrüstung mitzunehmen, da die Zeitspanne zwischen zwei Annäherungen der Serenity recht lang war, und man mit der Notwendigkeit von provisorischen Lösungen für unerwartete Probleme rechnen musste. Sie schwankten außerdem zwischen einem gewissen Roni aus dem vierten Sektor, der auf allgemeine Planetenkunde, Biologie und Geographie spezialisiert war und Dr. Nö, der für die Interpretation der komplexen Zahlenreihen hilfreich war. Da die Datenverbindung zur Serenity nicht immer gewährleistet sein würde, müsste man auf Signalanalysen durch Dr. Nö gegebenenfalls unverhältnismäßig lange warten. Roni hätte vor Ort auf Skalethos in jedem Fall die besseren Arbeitsmöglichkeiten. Sie entschieden sich daher dafür, auf Taylor zu verzichten.

Für die Landung wählten sie einen Ort, der über die Zeit ihres Aufenthaltes keine Nachtphase durchlief, sondern lediglich für eine kurze Zeit in eine Dämmerungszone eintauchte und das auch erst in einem späteren Abschnitt ihres geplanten Aufenthalts. Während sich der Container absenkte, dann aufsetzte und die Ferrin-Nanodrähte des L.I.F.T. unter gelegentlichen blinkenden Reflexen wieder in den schwarzen Taghimmel entschwanden, sahen acht Augen aus den Bullaugen auf eine glatte, glänzendgraue Steinfläche: da war nichts. Absolut nichts. Keine noch so dumme Flechtenart schimmerte im Licht des Zentralgestirns Omikron-Sont auf dem welligen Gestein, geschweige denn sahen sie Landschaften oder Anzeichen einer intelligenten Zivilisation. Enttäuschung und Verwunderung kämpften in ihnen um die Vorherrschaft. Lozzi löste sich als erster von dem Anblick und begann seine Arbeit. Die Antennen wurden ausgerichtet, die Verbindung zur Serenity war mit einigen routinierten Handgriffen installiert. Der Standby auf der Serenity beglückwünschte sie zur gelungenen Landung und teilte mit, dass jemand offenbar versehentlich ein persönliches Gepäckstück auf der Serenity vergessen hatte, jedenfalls stünde da noch etwas vor der Schleuse mit dem Namenslabel P. P. Roni. Roni schreckte hoch, kramte hektisch in der Gepäckablage des Containers, stöhnte auf und schlug sich vor die Stirn. Als er zu den anderen dreien zurückkehrte, klopften die ihm kameradschaftlich lachend auf die Schultern und boten an, ihm mit diesem und jenem auszuhelfen.

Das Expeditionsprogramm sah vor, sofort mit der Analyse der Umwelt zu beginnen und parallel ein Interface zu dem Sender der Signale aufzubauen. Sie vermuteten, die Zivilisation, die sie suchten, müsse komplett unter der Planetenoberfläche leben. Roni unternahm daher eine Outdoor-Exkursion im unmittelbaren Umfeld des Containers. Er verließ umständlich den Container in seinem Raumanzug durch die Luftschleuse und brachte sechs Schallechosensoren für eine Tomographiemessung an, nahm Proben und machte eine Reihe von Gas- und Strahlungsmessungen. Außerdem installierte er das dicke Erdungskabel ihrer Station. Als er zurückkehrte, hatte Lozzi bereits ein Terminal als Endpunkt eines Kommunikationskanals aufgebaut. Es stellte sich heraus, dass der Empfang der Signale von dem Planeten über die Außenantenne ganz passabel funktionierte, aber durch Zufall fand er heraus, das Erdungskabel erzeugte gegenüber einer isolierten Elektrode starke Spannungsschwankungen, die mit den beobachteten Antennensignalen übereinstimmten. Sie verfügten damit über eine Kabelverbindung zu den Bewohnern! Die nächste Enttäuschung wartete jedoch nicht lange auf sie. Die Tomographie ergab: es existierten in der von ihnen gewählten Region keinerlei Hohlräume im Innern des Planeten. Selbst langreichweitige Echolotmessungen zeigten: sie saßen auf einem großen Stein, nichts als Stein unter ihnen. Keine Zivilisation. Jetzt waren sie wirklich ratlos. Sie entschieden sich für eine Pause, kochten gemeinsam und saßen dann am Esstisch zusammen und spekulierten. Eins schien klar: eine Zivilisation, wie auch immer geartet, würden sie hier nicht finden. Die Chance, dass sich gerade irgendetwas Spannendes auf der von ihnen abgewandten Seite des Planeten ereignete, und dass sie nur zufällig einen ungünstigen Ort gewählt hatten, schätzten sie als denkbar gering ein. Die Signale, die sie über die Erdleitung erhielten, waren dafür zu stark, die Region, in der sie gelandet waren, war auch seitens der Lichtsteinstrahlung optimal. URO wagte als erste, es auszusprechen: „Wir müssen das Unwahrscheinlichste in Betracht ziehen: die Signale entstehen im Gestein des Planeten.“ Es gab sofort ein lebhaftes Durcheinander von Stimmen, von Argumenten und Gegenargumenten, die schließlich in die eine Frage mündeten: wie kann ein Stein, der nach irdischen Maßstäben mausetot ist, so hochkomplexe, sinnvolle Signalmuster erzeugen? Mit dieser Frage gingen sie auseinander und legten sich in ihre Kojen schlafen. Ein weiteres Mal amüsierten sie sich darüber, das Dr. Nö seine Kleidung zum Glätten unter die Siloxanmatratze legte.

Es begann eine Phase fiebriger Aktivität. Die Datenverbindung zur großen Magnetspeichereinheit und zu den Quantenröhren auf der Serenity glühte. Alle arbeiteten schweigend und mit einer gewissen Verbissenheit, teils um die Hypothese zu widerlegen, teils um mögliche Antworten auf die verwirrenden Fragen zu finden. Sie vergaßen darüber ihre Menu-Planung und aßen, was ihnen gerade in die Finger kam, wenn sie etwa auf dem Weg von der Probenanalyse zur Kommunikationseinheit oder von der Magnetpixeltafel zum Sextanten in der Aussichtskuppel an der Pantry vorbeikamen. Diesmal war es Dr. Nö, der mit einer Neuigkeit aufwartete: „Ich habe die Reihe der Werte, die unser Gastgeber hier berechnet, mit den Bahndaten von Skalethos abgeglichen. Es sieht zum jetzigen Zeitpunkt so aus, als beschreibe der Planet mit hoher Präzision seine Bahn und seine Eigendrehung.“ URO pfiff durch die Zähne und Lozzi blieb der Mund offen stehen. Nur Roni nickte versonnen: „Das ergibt doch Sinn. Wenn unser Steinplanet sich wirklich mit etwas auseinandersetzen will, dann gibt es dafür nur seine astronomische Existenz, also zum Beispiel der Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit und deren Verteilung auf der Oberfläche. Dafür hat er ja üppig Sensoren, nämlich die photovoltaischen Signale auf der Oberfläche. Vielleicht besitzt er sogar im Inneren piezoelektrische Sensoren für Zentrifugal- und Gezeitenkräfte.“ Dr. Nö nickte seinerseits: „Kugelflächenfunktionen sind jedenfalls das richtige Werkzeug, um dies alles zu beschreiben.“ Roni spekulierte: „Vielleicht ist das Programm gar kein Programm, sondern die Signale entstehen einfach durch die physikalischen Prozesse der Planetenbewegung in dem schaltbaren Material?“ Lozzi kratzte sich hörbar am Kopf: „Roni, welche Power steht dem System denn aus den photovoltaischen Aktivitäten zur Verfügung?“ „Kann ich so nicht sagen“, entgegnete Roni, „da ich die beleuchtete Fläche und die lokalen Neigungswinkel der Einstrahlung nicht kenne. Das müssten Dr. Nö und ich zusammen ausrechnen.“ Die beiden machten sich sofort an die Arbeit und fanden recht schnell eine Abschätzung, die sie wieder erstaunen ließ: Die Energiemenge, beziehungsweise die verfügbare Leistung reichte aus, um durch Ströme im Inneren das Gestein schmelzen zu lassen. Sie hatten die Abschätzung noch mit einem unabhängigen Ansatz wiederholt, es gab keinen Zweifel. Lozzi lachte: „Das erklärt vielleicht, warum der Planet soviel Leistung über seine Oberfläche in Form von Datenreihen abstrahlt. Das ist keine Nachricht, das ist seine Kühlung“. „Und…“, Dr. Nö zog das Wort in die Länge, so als ob er mit seiner Überlegung noch nicht fertig wäre, „… und, könnte es sein, dass der Planet mittels der Ströme und der Schmelzvorgänge seine Struktur verändert, in dem er manche elektrischen Verbindungen verstärkt, andere kappt, und sich so weiterentwickelt?“ URO schnappte nach Luft: „Evolution? Wie neuronale Verbindungen im Gehirn? Leute, wir müssen noch einen Schritt weitergehen! Ist das Teil hier unter uns“ – sie tappte mit dem Fuß auf den Boden – „eine dumme, seelenlose Rechenmaschine, oder können wir mit ihm … Kontakt aufnehmen?“

Alle sahen sich verdutzt an. Daran hatte noch keiner gedacht. Aber das war natürlich mehr als logisch. Die Blicke wandten sich zu Lozzi, als wollten sie sagen: Nun mach schon! Mach eine Verbindung!

– Teil 2 –

Lozzi zog sich vor die Magnetpixeltafel zurück, begann zu skribbeln und zu grübeln. Wo müsste man einen Kontaktpunkt herstellen? Wie macht man sich in dem Gewirr von Strömen und Sendeleistung im Untergrund bemerkbar? Lozzi organisierte sich eine Schale mit Erdnüssen und knabberte sie gedankenlos nebenher. Er legte die Beine hoch und starrte aus einem der Bullaugen. Er legte sich in seine Koje, rollte sich ein und legte ein kurzes Nickerchen ein. Die drei anderen ließen ihn in Ruhe, denn sie wussten, das war seine Art zu denken und zu arbeiten. Wenn er auch manchmal ein wenig schräg war, er förderte immer wieder überraschende Ideen aus seinem wirren Kopf hervor. Lozzi schreckte aus seinem Schläfchen hoch und machte sich daran, einen Kontakt zu Taylor auf der Serenity herzustellen. Die beiden diskutierten eine Weile lebhaft und Lozzi schrieb Notizen auf das Pixelboard. Als er das Gespräch beendet hatte, informierte er die anderen: „Wir müssen ein Loch bohren, ein Loch in die Oberfläche des Gesteins. An der Oberfläche sind die Ströme der Abstrahlung zu stark. Wenn wir ein Loch haben, lassen wir eine Sonde mit einer Elektrode hinab und kitzeln den Planeten ein wenig. Wir müssen dafür eine Diode bauen. Sonde und Diode müssen wir improvisieren. Taylor hat uns ein Standardpaket für die Glasbläserei eingepackt und er hat mir einen Schnellkurs gegeben. Für unsere Zwecke müsste das reichen.“ URO wiegte den Kopf: „Was meinst du mit ‚kitzeln‘? Schreiben wir ‚Hallo‘ in eine seiner Nervenzellen?“ Lozzi nickte: „Darüber habe ich auch nachgedacht. Es wird sicher spannend sein, irgend etwas Beliebiges zu senden und auf eine Antwort zu warten. Aber die Chancen auf einen Dialog sind damit, fürchte ich, nicht sehr groß. Wir könnten stattdessen zum Beispiel die Zahlenreihe, die er berechnet, unsererseits vorausberechnen und einspeisen. Das sollte ihn überraschen. Wir werden ja sehen. Was gibt es heute zu essen?“ Roni lachte, einerseits über die Frage nach dem Menu, andererseits auch in Anerkennung von Lozzis Plan. Man einigte sich darauf, dass Roni und Dr. Nö sich um das Abendessen kümmern sollten, während URO Lozzi bei seinem Unterfangen der Glasbläserei zur Hand ging. Sie suchten sich ein paar röhrenförmige Rohlinge und eine Metallspitze für die Sonde zusammen, das würde der einfachere Teil der Arbeit. Für die Diode würden sie eine Nadel auf eine von Ronis Halbleiterproben aufsetzen müssen und das Ganze in Glas einschmelzen, um es mechanisch haltbar zu machen und elektrisch zu isolieren. Lozzi zeigte URO seine Hände und beklagte sich über seine dicken Wurstfinger. URO lachte und schlug vor, dass sie ja die Feinarbeit machen könne, wenn er ihr alles soweit vorbereite. Sie bauten auch den Brenner zusammen und nahmen ihn kurz probeweise in Betrieb. Die eigentlichen Arbeiten wollten sie aus Sicherheitsgründen außerhalb des Containers durchführen. Dann war das Essen fertig, man setzte sich zusammen und sprach den Plan nochmal in allen Einzelheiten durch. Bevor sie zu Bett gingen, testeten URO und Lozzi noch in einem schnellen Handversuch, ob die Metallspitze auf dem Halbleiterbrocken eine brauchbare Diode ergeben würde, und waren mit dem Ergebnis zufrieden.

Am nächsten Morgen waren alle aufgeregt. Wenn alles klappte, würden sie heute versuchen, mit dem Planeten, mit dem Rechner im Planeten, mit dem Programm im Rechner in Verbindung zu treten. Das Frühstück fiel kurz und provisorisch aus. Roni richtete den Bohrer her, Dr. Nö machte sich daran, die Zahlenreihe der Kugelflächenfunktionen vorauszuberechnen, die sie gegebenenfalls einspeisen würden. URO und Lozzi stiegen in ihre Anzüge, stapelten die Ausrüstungsgegenstände in der engen Kabine und ließen sich in den Außenbereich schleusen. Statt einer Werkbank hielt URO die Sondenspitze und die Glasröhre mit Zangen in der Hand, während Lozzi die Brennerflamme auf das Rohrende richtete, das nach wenigen Sekunden in einem warmen Orangeton leuchtete. Er zog das Rohr zu einer Spitze aus und schmolz den Metallstift ein, der an einem langen Kabel durch das Rohr gezogen war. Das Rohr verlängerte er mittels Brenner um einige weitere Rohlinge, so dass sie einen langen Glasstab erhielten, der vorne eine Metallsitze aufwies. Dann kam die Herausforderung. Lozzi hielt den kleinen Gesteinsbrocken so ruhig er konnte, und drückte die Nadel dagegen, während URO einen Glasstab zu einer Spitze auszog und geschickt mit einen Glastropfen die Kontaktstelle der Nadel umschloss. Als das Ganze nach geraumer Zeit abgekühlt war, erschien es ausreichend stabil, und sie konnten die Diode mit einer Schutzschicht aus Glas überziehen. Wieder mussten sie längere Zeit warten, bis in der dünnen Atmosphäre das Werkstück abgekühlt war. Sie verschalteten die Sonde, das Signalkabel, die Diode und die Erdung und legten alles bereit für Roni, der das Loch in den Boden bohren würde. Der kam auch im Austausch für Lozzi durch die Schleuse, den zierlichen wirkenden Bohrer im Arm wie einen Säugling. Das Werkzeug wurde an die Außensteckdose angeschlossen und begann mit für seine Größe erstaunlicher Kraft, sich in den Untergrund zu schrauben. Dann ließen sie die Sonde hinab. Im Inneren des Containers saß Lozzi vor dem grün leuchtenden Röhrenbildschirm des Terminals und versuchte, verschiedene Zahlenfelder und Kurven gleichzeitig zu verfolgen und zusätzlich den Blickkontakt zu Roni und URO draußen vor dem Bullauge zu halten. URO gab das Daumen-hoch Zeichen und Lozzi tippte wahllos: ‚Hallöchen‘ in das Terminal. Dr. Nö stand neben ihm und blickte ihm über die Schulter: „Hallöchen? Was soll das denn heißen?“ Lozzi lachte: „Das ist genauso gut oder schlecht wie ‚Mahlzeit’.“ Dabei starrten sie gebannt auf das Sendesignal des Planeten. Nichts schien sich verändert zu haben. Lozzi gab den beiden draußen ein Zeichen mit der Hand und sprach sie über Funk an, die Sonde ein wenig hin und her zu bewegen. Sie wiederholten den Versuch zuerst mit zunehmender Spannung, dann mit höherer Stromstärke, und immer wieder veränderten die URO und Roni die Position der Sonde ein wenig. Lozzi meinte zu bemerken, dass das Sendesignal des Planeten sich zeitweilig ein wenig verzögert habe, aber er konnte das nicht ausmessen und ließ es auf sich beruhen. Die Außenmannschaft kehrte zurück in den Container und ließ die Sonde dort, wo sie gerade steckte. Als URO sich aus dem Anzug geschält hatte, setzte sie sich auf einen Stuhl, legte die Füße auf der Schreibtischplatte ab und sagte: „Das ist ein Autist. Der hat noch nie mit jemandem gesprochen. Der weiß gar nicht, dass außer ihm noch andere Wesen existieren. Der hält unsere Kontaktversuche für Störungen in seinem Gehirn! Machen wir den nächsten Schritt!“ Sie speisten die von Dr. Nö vorberechneten Ergebnisse ein, jeweils nur Sekunden bevor der Planet dieses Ergebnis selbst produzieren musste. Diesmal war die Verzögerung im Sendesignal deutlich zu erkennen. „Er ist verdutzt“, stellte Lozzi lakonisch fest. „Mehr aber auch nicht“, kommentierte Dr. Nö. Sie wiederholten das Ganze mehrere Male mit gleichem Effekt, bis es ein bisschen langweilig wurde. „Kein wirklicher Charmebolzen, der da draußen“, maulte URO. Während alle darüber nachgrübelten, was man tun könne, spielte Lozzi am Terminal mit Kinderreimen herum: „1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, wo ist meine Frau geblieben?“ Das Sendesignal der montonen Zahlenreihen aus dem Sender, das in grünen Zahlenkolonnen über den Schirm lief, brach plötzlich ab. „He! Hier!“ rief Lozzi und deutete auf den Schirm, wo statt der Werte der Kugelflächenfunktionen klar und deutlich zu lesen stand: „8, 9, geblieben“. Alle schrien durcheinander vor Aufregung. Sie probierten weitere einfache Zahlenfolgen, die der Planetenrechner immer ergänzte. Er wiederholte jetzt auch Worte, als sei er auf den Geschmack gekommen. Sie versuchten kompliziertere Sequenzen von Zahlen, die ebenfalls ergänzt wurden. Lozzi gab nochmal die Zahlen von eins bis sieben ein. Die Antwort lautete: „Frau geblieben“. URO starrte auf den Schirm: „Das ist ein Kind, ein ganz junges Kind, ein Säugling. Der plappert einfach Dinge nach, die er gehört hat. Der lernt durch Nachahmen. Und gleichzeitig ist er inselbegabt, ein Mathegenie.“

Die folgenden Tage waren von fiebriger Aktivität geprägt. Wenn sie es mit einem praktisch Neugeborenen zu tun hatten, mussten sie sich an die klassischen pädagogischen Konzepte halten. Sie mussten Skalethos unterrichten. Lozzi präsentierte dem Planetengehirn die Sprechreime, an die er sich aus seiner Kinderzeit noch erinnern konnte. Der Planet hatte offenbar großen Spaß, die Reime zu wiederholen oder Zeilen vorherzusagen, die gleich kommen mussten. Er lernte dabei sehr schnell, aber es war offensichtlich, dass die Reime für ihn nur Zeichenmuster waren. Er konnte mit den Begriffen wie zum Beispiel Pferd oder Reiter nichts anfangen. Wenn man ihn fragte: was ist eine Maus?, dann lautete die Antwort ‚nicht zuhaus‘. Daher schlug Lozzi vor, Skalethos versuchsweise die Datenbank an Bord der Serenity als Lernmaterial zur Verfügung zu stellen. Die enthielt unter anderem eine enzyklopädische Wissensbasis, allerdings auf Magnetbändern, da man bei der Konstruktion der Serenity auf Halbleitertechnologie jeder Art aus Sicherheitsgründen komplett verzichtet hatte. So mussten sie in einem etwas umständlichen und zeitraubenden Prozess, die Information von den Bändern zuerst portionsweise in den Ringkernspeicher übertragen und anschließend über die Datenverbindung an den Container auf Skalethos senden. Von dort richtete Lozzi den Transfer zur Sonde ein. Während der Pausen, die in dieser Datenkette immer wieder entstanden, hielt Lozzi Smalltalk mit Skalethos. Er erklärte, was der Unterschied zwischen einem Text und einem Bild ist, und sein Gesprächspartner staunte darüber, dass die Helligkeitsschwankungen, die er auf seinen photoempfindlichen Flächen wahrnahm, einen solchen Gehalt an Informationen beinhalten konnten. Lozzi beschrieb auch Schall und Sprache und wieder konnte Skalethos dies ansatzweise nachempfinden anhand der piezosensorischen Bereiche, die offenbar überall im Gestein verteilt waren. Als Lozzi über die biologische Natur des Menschen plauderte, stieß er jedoch auf komplettes Unverständnis. Was das für eine Lebensform sein sollte, war Skalethos völlig schleierhaft. Mehr noch, es stellte sich heraus, dass Skalethos gar nicht verstanden hatte, dass es nicht nur einen Menschen, nämlich Lozzi gab. Eine Mehrfachheit, eine Pluralität von Individuen konnte das Halbleitergehirn nicht begreifen. Daher kam Lozzi auf die Idee, das jeder vom Team sich einmal persönlich vorstellen sollte mit einem kleinen Vortrag, wer man war, wie man hieß, was man gerne mochte und so weiter. Er machte den Anfang und stellte sich mit seinem Namen vor: Lozzi, eigentlich Pest-a-Lozzi, oder kurz einfach Lozzi. Skalethos zögerte eine Weile und fragte dann, ob er auch einen Namen habe. Jetzt zögerte Lozzi. Konnten sie dem Planeten einfach so einen Namen zuteilen? „Wir nennen dich Skalethos. Gefällt dir der Name? Oder hast du vielleicht bereits so etwas wie einen Namen?“ Skalethos dachte wieder einige Momente nach: „Skalethos. Das ist gut. Skalethos!“ Als URO an der Reihe war, sich vorzustellen, gab es eine kleine Verwirrung, weil URO erklärte, ihr Name sei eine Abkürzung für ‚Unbemanntes Raum-Objekt‘, und dann noch ergänzte, dass Taylor immer behaupte, der Name komme aus dem Lateinischen von ‚uro – ich versenge‘. Dr. Nö erzählte nur wenig über sich, er konnte stattdessen mit Skalethos trefflich über Kugelflächenfunktionen und die damit verbundenen Differentialgleichungen fachsimpeln. Roni versuchte in seinem Gespräch herauszufinden, in wie weit der Planet sich über die Art seines Aufbaus, seiner Zusammensetzung und seiner Struktur bewusst war. Interessanterweise konnte das Rechnersystem, das dem Planetengehirn zugrunde lag, gezielt Modifikationen der Verbindungsstärke zwischen verschiedenen Hirnarealen vornehmen. Dabei gab es offenbar mehrere Möglichkeiten, von denen eine irreversibel war und vom Planeten als gefährlich wahrgenommen wurde. Sie gaben diesen verschiedenen Verfahren Namen, um diese in der Diskussion besser unterscheiden zu können. Da gab es zum Beispiel „Schlaf“, wenn Bereiche der Planetenoberfläche in die Schattenzone wanderten oder „Sprechen“, wenn der Planet sich auf die Kommunikation über die Sonde konzentrierte. Die irreversible Modifikation nannten sie „Infarkt“.

Es verwunderte das Team immer wieder, wie schnell der Planet lernte, durch ihre Gespräche und Erklärungen, aber auch aus dem Datenstrom von der Wissensbasis der Serenity. Auf die Frage ‚was ist eine Maus?‘ antwortete der Planet inzwischen mit einer ausführlichen Erklärung, mit einer Definition, einer Unterscheidung zu ähnlichen Tieren, einer Einordnung in die Systematik der Biologie. Er konnte auch ein Bild einer Maus reproduzieren, doch es war klar, das Skalethos immer noch keinen Begriff von einer Maus hatte, sondern nur die Bitmuster, die er mit dem Begriff ‚Maus‘ verband, sehr viel komplizierter geworden waren. Bei einer der vielen Diskussionen über ihr Projekt, blickte URO die anderen über den Rand ihrer Kaffeetasse an und murmelte nachdenklich: „Ihm fehlen die Gefühle zu den Informationen. Wenn wir eine Maus sehen, können wir die faktische Information damit verknüpfen, aber es entsteht auch eine mehr gefühlsmäßige Reaktion, also zum Beispiel ‚putzig‘ oder ‚Panik‘ oder ‚habe ich als Kind in der Scheune gesehen‘“. Roni griff den Punkt auf: „Wollen wir unser Experiment dahingehend ausdehnen, ob der Planet auch Gefühle entwickeln kann?“ Dr. Nö zweifelte an, das dies prinzipiell überhaupt möglich wäre. Er plädierte dafür, lieber an die Grenzen mathematischer Herausforderungen zu gehen, und zum Beispiel über Lösungen der Einsteingleichungen oder Modelle der Quantengravitation zu diskutieren, in er Hoffnung, neue Ideen und Ansätze zu finden. Für Lozzi, der die meiste Zeit des Tages und einen nennenswerten Teil der Nacht im Dialog mit dem Planeten verbrachte, war die Sache eigentlich schon entschieden. Er erlebte in allen Kontakten und Dialogen mit Skalethos, dass dieser ein großes Interesse an dem Gespräch mit seinem Besuchern hatte und dass er eine gewisse Enttäuschung an den Tag legte, wenn Lozzi um eine Pause bat mit der Erklärung, er brauche Erholung, Schlaf, Essen. Der Planet zeigte auch eine freudige Erregung, wenn es wieder weiterging mit dem Dialog. Das Skalethos keine Emotionen in Bezug auf den Begriff ‚Maus‘ hatte, war ja nur zu verständlich, weil er nie einer Maus begegnet war. Aber ihnen, dem Team von der Serenity, war er begegnet, für sie existierten Erinnerungen in diesem Gehirn und für sie empfand er auch Gefühle, da war sich Lozzi sicher. Um seine Sicht der Dinge zu untermauern, begann Lozzi, zusammen mit Skalethos Gedichte zu schreiben, Haikus: Jenseits der Schale / meiner drei Sinne / bist du vielleicht da draußen? Oder: Hell und dunkel / warm und kalt / entspannt und gezerrt / hier hast du mein Wort. Die dramatische Wendung kam, als Lozzi dichtete: Wie wird es dann sein / die Leere und ich / und ein Schatz an Gedanken. Skalethos brauchte eine ganze Weile der Stille, um über den Sinn der Zeilen nachzudenken. Schließlich fragte er, was das Wort ‚dann‘ bedeute. Lozzi begann zu erklären, merkte wie er sich in Formulierungen verirrte, setzt erneut an, war wieder unsicher, ob er den richtigen Draht zu seinem Gegenüber fand und bemerkte irgendwann, das er eigentlich über den Begriff ‚Ende‘ sprach. Skalethos hatte mittlerweile eine souveräne Art, mit Begriffen umzugehen, die er nicht verstand. ‚Ende‘ konnte er sich zum Beispiel nicht vorstellen. Es gab nichts in seiner Erfahrungswelt, das er mit diesem Begriff gleichsetzen konnte. ‚Anfang‘, ja das ergab einen Sinn, auch ‚Pause‘. Aber ‚Ende‘? Was sollte das sein? So entspann sich eine Diskussion, in der immer deutlicher wurde, dass Lozzi offensichtlich von einer Veränderung sprach, von einem neuen Anfang vielleicht, etwas, das länger dauerte als eine Pause. Noch während Lozzi mit zunehmenden Bauchschmerzen nach neuen Erklärungen suchte, erhob sich URO von der Kommunikationseinheit, zog das Headset vom Kopf und rief: „Voralarm! Die Serenity kommt in 48 Stunden! Alles klarmachen zum Wiederaufstieg!“ Lozzi raufte sich die Haare. Zurück, zurückkehren, Abschied, keine Gespräche mehr, fortgehen, allein bleiben, was in aller Welt sollte er Skalethos schreiben? Er versuchte dies und das, doch sein Gegenüber machte einen zunehmend verwirrten Eindruck. Die Zahl der unverständlichen Worte nahm für Skalethos plötzlich schlagartig zu. Immer wieder stellte er die hilflose Frage: „Was sagst du?“ Eine Orientierungslosigkeit, eine Panik schien von Skalethos Besitz zu ergreifen, im gleichen Maß wie die Hilflosigkeit zwischen Lozzis Zeilen zunahm. Die Gespräche verliefen von nun an plötzlich in einer verzweifelten, verkrampften Normalität. Skalethos fragte beiläufig, ob etwa auch URO und Dr. Nö in dieses Ende involviert sein würden. Während Lozzi nun fast pausenlos mit Skalethos chattete, packten die andern die Ausrüstung und machten alles flugbereit. Die Details für das Rendezvous wurden mit der Serenity ausgehandelt. URO schaute immer ernster drein, wenn sie Lozzi vor dem Terminal beobachtete. Dann kam der Hauptalarm. URO legte Lozzi eine Hand auf die Schulter, sah ihm in die Augen und nickte unmerklich. Mitten in einem Satz hielt Lozzi inne, schrieb ‚Leb wohl!‘ und schaltete die Verbindung ab. Irengswann rastete der L.I.F.T.-Kontakt hörbar ein, der Container ruckte an, die Kabelverbindung zur Sonde riss.

Noch über viele Tage, als die Serenity die Planetoidenbahn um Omikron-Sont längst verlassen hatte, verfolgten sie die schwächer werdenden Signale von Planet III: „Lozzi. URO. Skalethos. Wo ist meine Frau geblieben? Maus …“