Stine macht ihre Sache gut

Stine macht ihre Sache gut

Es ist ein trister Mittwochmorgen nach einem tristen Dienstag nach einem tristen Montag. Davor weiß Renate nicht mehr so genau. Letztes Wochenende? Keine Ahnung. Die Tage verschwimmen ineinander wie mit Wasserfarben gemalt, werden konturlos. Morgens schnell das Nötigste im Haushalt erledigen. Richard macht sein Morgenritual ohnehin seit Jahren selbst: im Pyjama einen Kaffee auf die Hand, ein frisches Hemd aus dem Papier wickeln, in das die Reinigung die Hemden immer liebevoll einschlägt, den zweiten Kaffee schon rasiert und angezogen auf die Hand, Schlüssel, Handy, Tasche. Weg ist er. Die Mädchen wohnen ohnehin seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause. Renate beschickt noch die Spülmaschine, stellt den Müllbeutel vor die Tür, um ihn gleich nicht zu vergessen, wischt husch-husch über die Waschbecken im Bad. Fertig. Sie sucht die Dinge zusammen, die sie für Christine besorgt hat, das Taschenbuch aus der aktuellen Bestsellerliste, ihre Hautcreme, das Foto von Hannah, und macht sich auf den Weg.

Christine wohnt nur zwei Straßen weiter: über die Bergheimer, den Rollweg hoch, rechts in den Ginkoweg, an dem hinter Mauern und Zäunen tatsächlich ein paar Ginkos in den Vorgärten der stattlichen Häuser stehen. Drei Hausnummern bergab: Ginkoweg 23, Christine und Urs Westhal, sie hat einen Schlüssel.

Im ersten Stock mit Blick auf die Balkontür, durch die eigentlich die Sonne scheinen sollte, liegt Christine in ihrem Pflegebett und ein Leuchten geht über ihr Gesicht, als Renates Kopf leise und zurückhaltend durch den Türspalt schaut. Seit einigen Wochen geht das nun schon so: Renates vorsichtiges Eintreten, um Christine nicht zu wecken, wenn sie noch schlafen sollte. Aber Christine schläft nie, sie wartet ungeduldig auf die Freundin und mit gespielter Genervtheit zitiert sie Renate an ihr Bett. Sie umarmen sich, wie geht’s heute, ich freue mich, dass du da bist, wie geht es dir, du treue Seele, wird es dir nicht zu viel, jeden Tag? Renate sieht in das vom grauen Himmelslicht scharf konturierte Gesicht vor ihr im Bett und wird ernst:

Nein. Es wird mir nicht zu viel, es wird mir nie zu viel. Ich möchte noch etwas von dir haben. Du bist ein Teil meines Lebens, ein großer Teil, ein großer und wichtiger Teil. Wie könnte mir das zu viel werden?

Beide sehen sich an und schweigen. Das Weinen haben sie hinter sich gelassen. Jetzt sind da nur diese bleischweren Momente, keine schmerzende Schwere, aber eine bedeutungsvolle. Renate zerbricht ihren Blickkontakt und beginnt, das Zimmer aufzuräumen, reißt zum Lüften die Balkontür auf, sie schüttelt das Bett auf, stellt das Kopfende vorsichtig in eine etwas höhere Sitzposition, das gebrauchte Trinkglas wird gegen ein frisches ausgetauscht. Christine ist seit einigen Tagen zu schwach, mit Unterstützung zum Klo zu gehen. Renate schiebt ihr eine Bettpfanne unter den Po und geht kurz vor die Tür. Das ist immer noch etwas peinlich, das Edelstahldings samt Inhalt zu entsorgen. Dann waschen, Haare kämmen, die verkladdern immer so durch das Liegen, das ziept! Stine quiekt, Renate flüstert ihr schnippisch ins Ohr: stell dich nicht so an! Sie nehmen sich in den Arm, Wange an Wange. Urs schaut herein: mein Schatz ich muss los! Er begrüßt Renate, streicht Stine über die Wange: es wird vielleicht später heute, wir müssen das Meeting für morgen vorbereiten, aber du bist ja in guten Händen. Er verschwindet winkend. Renate verzieht den Mund.

Nicht leicht für ihn, sagt Christine mehr zu sich selbst.

Nicht leicht für dich! insistiert Renate.

Ach weißt du, es ist viel schwerer als ich gedacht habe, ich weiß nicht ob ich meine Sache hier gut mache, aber es ist ja mein erstes Mal.

Nun weint Renate doch, erst schüttelt es sie, dann laufen nur die Tränen über das Gesicht, sie langt nach den griffbereiten Einmaltüchern und wischt die Tränen fort, ehe sie auf das Laken tropfen können. Christine fischt nach Renates Aufmerksamkeit:

Weißt du noch damals, ganz am Anfang, diese Party unten auf der Neckarwiese? Ich glaube, Urs wollte eigentlich was mit dir anfangen damals.

Ach Quatsch.

Doch, doch, er hat das nie gesagt, aber man spürt sowas doch. Er hatte doch dann auch diesen Streit mit Richard, als die beiden schon gehörig die Lichter an hatten. Stimmt, daran kann ich mich erinnern.

Ey, oder als wir auf Spiekeroog mit Gummibärchenvergiftung am Strand lagen und nur noch schwarze und weiße Punkte gesehen haben und dann kam Oliver mit einer Qualle in seinem Sandeimerchen …

…und wir konnten uns nicht rühren und er wollte die Qualle auf uns ausschütten und dann kamen Leute, um uns zu retten, weil wir so gekreischt haben.

Sie schweigen und betrachten die gemeinsamen Bilder in ihren Köpfen.

Wie es wohl sein wird, wenn ich nicht mehr da bin? fragt Christine und nach einer kurzen Pause: und wie es wohl da drüben ist, wo ich dann hingehe? Glaubst du, da ist etwas auf der anderen Seite?

Renate kehrt sich einen Moment in ihr Inneres und erzählt dann von einem Bekannten, Thomas, dessen Schwester an Darmkrebs verstorben ist. Ihre Eltern hatten die Schwester und ihren Tod für sich vereinnahmt, organisiert, abgewickelt. Sie haben die junge Frau noch mit ihrem Freund verheiratet, zwei Wochen vor ihrem Tod. Vielleicht ihre Art, damit umzugehen, damit fertig zu werden. Thomas jedenfalls kam in ihrem Plan wohl nicht vor, er hatte nicht mal Gelegenheit, sich richtig zu verabschieden, das muss man sich mal vorstellen. Er hat den Eltern in einem heftigen Streit seine ganze Wut und Trauer entgegen geschrien und da – fällt ein Bild von der Wand, das die Schwester früher mal gemalt hatte. Das kann doch kein Zufall sein, oder?

Weißt du was, Christine ist plötzlich ganz aufgeregt, wir treffen jetzt eine Verabredung. Es sieht ja so aus, dass ich als erste da drüben ankommen werde. Wenn ich die Möglichkeit habe, schicke ich dir ein Zeichen. Was hältst du davon?

Was für ein Zeichen?

Keine Ahnung was. Ich muss ja erst mal schauen, was da so geht. Aber irgend was, was nur für dich bestimmt ist und das du gut erkennst. Ein Bild von der Wand fallen lassen, ist schon mal ne gute Idee, oder ich erscheine dir im Traum oder was weiß ich.

Du wirst mit Gewissheit sehr oft in meinen Träumen erscheinen, ist sich Renate sicher, das taugt wohl eher nicht so gut. Könntest du nicht mit Feuer an die Wand schreiben? Oder meinetwegen mit Filzstift.

Welche Farbe?

Beide lachen und kriegen sich nicht mehr ein.

Ach, das ist so schön mit dir zu Lachen, seufzt Renate, was haben wir nicht alles für Unsinn gemacht.

Christine wird ernst, fasst mühsam Renate an den Schultern und dreht sie zu sich:

Reni, ich mache das aber wirklich, ich schicke dir ein Zeichen …

Aus einem zähen Strudel von Zeit, Bettwärme und Schlaf, an dem noch bunte Fetzen des letzten Traumes kleben, rudert sich Renates Bewusstsein an die Oberfläche. Es dauert einige Momente, bis sie bemerkt, dass das Handy klingelt. Ein Uhr vierzig. Sie reibt sich die Augen, um überhaupt etwas sehen zu können. Die Anzeige behauptet, es ist Urs. Renate fingert fahrig auf dem Display herum, bis das Gespräch zustande kommt: Stine… Mit einem Satz springt Renate aus dem Bett und spürt, wie ihr Herz plötzlich ins Leere pumpt und ihr ein kalter Schweiß auf der Stirn steht. Richard brummt in seinen Kissen. In Windeseile ist Renate angezogen und auf dem Weg. Die Luft ist kühl an den Wangenknochen und an den Schläfen, die Straßen sind leer bis auf die Nachtfalter, die um die Laternen flattern. Renate eilt. Der dunkelblaue dünne Mantel, den sie sich nur schnell übergeworfen hat, ohne ihn zuzuknöpfen, weht hinter ihr her. Als sie die Wohnungstür der Westhals aufschließt, steht Urs da, die Jogginghose auf links, die Haare stehen ihm zu Berge, er sieht Renate mit einer flehenden Verzweiflung an. Als sie an das Pflegebett tritt, springt ihr der Tod mitten ins Gesicht und krallt sich an ihren Augen fest. Christine atmet ganz flach, kaum erkennbar, ihr Gesicht ist grau und eingefallen und sieht hart aus wie ein Holzschnitt, ihre Augen sind geschlossen. Renate nimmt ihre Hand, da öffnet Christine die tiefliegenden, grau umrandeten Augen und ein Aufblitzen geht durch ihren Blick. Urs steht hilflos wie ein Fremdkörper im Raum und wringt seine Hände. Christine bewegt die Lippen, aber auch mit dem Ohr an ihrem Mund versteht Renate keine Silbe. Trotzdem nickt sie ernst. Christine nickt ebenfalls ganz leicht mit dem Kopf, den Blick fest auf Renate gerichtet. Sie verständigen sich auch ohne Worte. Christine schließt die Augen und als Renate ihre Hand loslassen will, um sich einen Stuhl zu angeln, hält Christine sie mit überraschender Kraft fest. Urs schiebt einen Stuhl heran und Renate setzt sich in ihrem Mantel neben das Bett. Urs hat sich ebenfalls einen Stuhl dazugestellt. Sein Kopf ist auf die Brust gesunken, Renate weiß nicht, ob er eingeschlafen ist oder tonlos vor sich hin weint. So sitzen sie bis zum Morgengrauen, Renate und Christine Hand in Hand. Renate schreckt aus einem Sekundenschlaf auf. Waren es nur Sekunden? Oder doch Minuten? Oder eine halbe Stunde? Urs schläft auf seinem Stuhl. Christine liegt ganz still, Renate ist sich sicher, dass sie eben noch geseufzt hat, jetzt ist ihre Hand schlaff. Renate versucht zu erkennen, ob Christine noch atmet. Sie sucht nach einem Anzeichen von Pulsschlag. Sie sucht nach irgendeinem Anzeichen von Leben in dem ausgemergelten Körper. Dann fasst sie Urs an der Schulter, der schreckt sofort auf, und ihr Blick sagt alles. Urs beugt sich über Christine und streicht ihr mit herzzerreißenden Zärtlichkeit über die Wange, dann nimmt er Renate in den Arm. Das morgendliche Grau hinter der Balkontür verspricht einen weiteren tristen Tag.

In den kommenden Tagen ist Renate nicht sie selbst. Christine fehlt ihr, die Routine der Besuche und der Pflege sind ihr abhanden gekommen, sie ist übermüdet, weil sie nicht gut schläft. Alles um sie herum, selbst die alltäglichsten Dinge gewinnen plötzlich an einer hochaufgelösten Wirklichkeit, in geradezu schmerzhafter Schärfe schneiden sie sich in die Wahrnehmung. Vor allem aber ist da dieser Gedanke: Christine sendet ihr ein Signal, und der Gedanke wandert ihr unter die Haut und geht nicht mehr weg. Alles könnte ein Signal sein: Kritzeleien auf den Plakaten der Litfaßsäule, zufällige Berührungen mit anderen Personen auf dem Gehweg, kryptische Annoncen im Anzeigenblättchen unter „Vermischtes“. Renate fragt sich, ob Christine versucht hat, ihr auf diese Weise erhalten zu bleiben, immer präsent zu sein. Jedes Autokennzeichen will zwanghaft gelesen werden, Aufkleber an den Laternenmasten, Handzettel für den Hofflohmarkt am Wochenende. Sie belauscht fremde Gespräche hinter sich in der Straßenbahn, sie notiert sich die wirren Träume ihres fadenscheinigen Halbschlafes im ersten trüben Morgenlicht, sie schlägt wahllos Bücher auf und liest ein paar Zeilen. Auf keinen Fall darf es passieren, dass sie aus Nachlässigkeit oder – bewahre – aus Frustration das Zeichen versäumt. Richard erzählt sie nichts, er würde das nicht verstehen, als Humbug abtun. Und ja, noch vor einer Woche hätte Renate dasselbe getan. Aber nun …? So vergehen die leeren und doch anstrengenden Tage bis zu Christines Beerdigung.

Ganz großer Bahnhof. Alle sind sie da: die Mädels vom Volleyball, viele von den früheren Kollegen erkennt Renate, auch viele Nachbarn. Daneben, darunter, dazwischen zahllose Gesichter, die sie nie gesehen hat, zumindest erinnert sie sich nicht. Ganz vorne sitzt Urs, daneben Kyra, die aus Paris eingeflogen ist und auf seiner anderen Seite Oliver, der ist schon fast ein gesetzter Mann in seinem dunklen Anzug und mit seinem teuren Haarschnitt. Der greise Großvater sitzt neben Kyra, Renate ist sich nicht sicher, ob er weiß, an welcher Beerdigung er hier teilnimmt. Die Geschwister sind auch alle da mit ihren Familien, sitzen in der zweiten Reihe, in der dritten. Mit Richard neben sich hat Renate irgendwo in der anonymen Mitte der Halle Platz gefunden. Urs wollte sie beide gerne in seiner Nähe haben, aber Renate war sich nicht sicher, ob sie da vorne nicht in Schluchzen ausbricht. Im hinteren Teil der Halle verteilen sich viele junge Leute, aus dem Verein, Freunde der Kinder, auch Hannah und Lenchen, sie wollten nicht bei ihren Eltern sitzen. In der Mitte ganz vorne steht der blumengeschmückte Sarg, je eine große weiße Kerze rechts und links daneben. Seitwärts ist ein großes Bild aufgestellt und zeigt allen eine lachende, braungebrannte Christine, das ist auf ihrem gemeinsamen Korsika-Urlaub aufgenommen, ein Schnappschuss eigentlich, etwas unscharf, aber auf dem Foto sprüht sie nur so vor Lebensfreude.

Der Bestattungsredner – Christine wollte auf keinen Fall eine kirchliche Zeremonie – tritt an das Rednerpult, das leicht erhöht steht. Das allgemeine Murmeln, Tuscheln und Brummeln verebbt langsam. Mit einer wunderschönen Stimme, wie die Töne aus dem Schallloch eines Cellos, beginnt der nun zu reden, aber Renate kann sich nicht auf seine Worte konzentrieren. Immer bleiben die einen oder anderen Worte für einen Moment hinter ihrer Stirn haften, lösen sich dann wieder wie Blätter, die in einem Fluss treibend an tief herabhängenden Zweigen aufgehalten werden, etwas unentschlossen herumtanzen, um dann trudelnd weitergerissen zu werden. Es erklingt Musik, Renate erkennt es bereits nach dem ersten Takt, ‚Tu te reconnaitras‘, ein trauriger Walzer, Christine hat sich das gewünscht, weil sie das Lied so mochte. Zum Sterben schön, hatte sie mal gesagt. Und nun ist auch noch der Titel doppeldeutig. In den Sitzreihen um sie herum hört Renate Schniefen und das Rascheln von Papiertaschentüchern. Nach dem die letzten Töne verklungen sind, entsteht eine Stille, die nur schwer zu ertragen ist. Der Redner lässt diese Stille einfach zu, lässt sie sich ausdehnen, lässt sie schmerzhaft werden, bis er wieder das Wort ergreift und aus Christines Leben erzählt.

Irgend etwas passiert da im hinteren Teil der Halle, ein Flüstern, Kopfwenden, so was eben. Dann sieht Renate es auch: eine kleine, getigerte Katze läuft durch den Mittelgang auf dem derben, roten Läufer die Reihen entlang, selbstbewusst, überhaupt nicht schüchtern. Scheuchende Hände von wohlmeinenden Trauergästen am Rande der Stuhlreihen betrachtet sie mit einer gewissen Verwunderung, sie tigert weiter, immer abwechselnd nach rechts und links äugend. Renate verliert sie auf ihrem Weg nach vorne aus den Augen, aber an den Köpfen in den Reihen vor sich sieht sie genau, wo sich das Tier befindet. Schließlich scheint sie ganz vorne zu sein und ihre Spur verliert sich. Wie Renate in dem gleichförmigen Strom der wohlklingenden Worte auf die polierten Spitzen ihrer schwarzen Schuhe blickt, sieht sie aus den Augenwinkeln die kleine Katze von rechts durch ihre Stuhlreihe tapsen. Auf einmal schlägt ihr Herz so laut, dass es für alle hörbar sein muss. Die Katze bleibt vor Renates Stuhl stehen, schaut herauf und in einer genau abgemessenen, federleichten Bewegung springt sie auf Renates Schoß, wo sie einen Moment verweilt, um sich blickt, um sich dann mit einer drehenden Bewegung einzurollen und hinzulegen. Renate stockt der Atem. Die Umsitzenden haben entweder gar nichts mitbekommen oder sie verziehen den Mund zu einem leichten Lächeln und stoßen ihre ahnungslosen Nachbarn mit dem Ellenbogen an, auf Renate deutend. Die weiß nicht, wie ihr geschieht. Das kann nur eins bedeuten. Das kann doch wirklich nur eins bedeuten. Wie hatte sie gesagt: etwas, das nur für dich bestimmt ist und das du gut erkennst. Deutlicher geht es ja wohl nicht. Gut gemacht, Stine! Renate hat gar nicht mitbekommen, dass die Zeremonie zu Ende geht, alle erheben sich, während der Sarg langsam durch die bunte Glastür in das Ehrfurcht heischende und doch dezente Fahrzeug verbracht wird für den letzten Weg zur Einäscherung. Renate bleibt einfach sitzen, die Katze auf ihrem Schoß rührt sich nicht. Langsam lichten sich die Reihen, die meisten Anwesenden gehen noch zu Urs, Kyra und Oliver, um ihnen die Hand zu geben und ihr Mitgefühl auszudrücken. Renate sitzt immer noch auf ihrem Platz, Richard, der neben ihr steht, sieht sie fragend an, aber Renate deutet nur hilflos mit den Schultern zuckend auf die Katze und lässt Richard sich mit Hannah und Lena in die Menschenschlange einreihen. Nach einer ganzen Weile ist die riesige Halle leer bis auf zwei Angestellte des Beerdigungsunternehmens, die räumen auf, legen den Blumenschmuck zur Seite, blasen die Kerzen aus. Nur ein Stuhl in der Mitte des weiten Raumes mit seinem strengen Muster aus disziplinierten Stuhlreihen ist noch besetzt. Die anderen sind jetzt wohl schon im Tonkrug oder doch auf dem Weg dahin, wo es Schnittchen gibt und Butterkuchen zum Kaffee und auch der eine oder andere Schnaps ausgeschenkt wird. Man hat sich lange nicht gesehen, da gibt es viel zu erzählen, kennen Sie eigentlich unsere neue Schulsekretärin, die Kinder sind ja alle schon erwachsen, daran sieht man wie man älter wird, da drüben steht der Reuther von WCE, schon sehr nobel, dass ein Kunde jemanden vorbeischickt, aber sie war ja auch die Seele vom Geschäft, nach unserer gemeinsamen Städtetour letztes Jahr dachte ich mir schon…, ich kann es immer noch nicht glauben, es ging jetzt aber doch sehr schnell, ich gehe mal zu Urs und den Kindern. Renate sieht all dies bildlich vor sich, kann die Gespräche hören, aber sie hat kein Verlangen danach, dort zu sein, es ist ihr gleichgültig, dass dort das Leben weitergeht. Die Katze auf ihrem Schoß rührt sich nicht, sie schläft, hin und wieder zuckt eines ihrer Schnurrhaare. Einer von den Angestellten kommt durch den Mittelgang bis zu Renates Stuhlreihe und räuspert sich: Sie müssten dann auch gehen, bitte, wir müssen abschließen. Renate nickt und bleibt sitzen. Der Mann zieht wieder ab, werkelt etwas an der Seitentür und flüstert mit seinem Kollegen. Die Zeit steht still, bis die kleine Tigerdame blinzelt, eine Pfote weit von sich streckt, und sich dann halb auf den Rücken dreht. Dann steht sie auf, stupst Renate mit dem Kopf an und hinterlässt auf dem dunklen Kostüm eine Spur flaumiger, mikroskopisch dünner Haare. Renate fasst ihren Mantel, den sie über die Stuhllehne gelegt hatte, zu einem Knäuel zusammen, setzt die Katze hinein, hält sie eng am Körper vor der Brust und die lässt sich das gefallen. So gehen die beiden heim.