Versagen

Versagen

Wie leicht gebeugte Rabenvögel streben die Menschen im böigen Wind dem Eingang zu, der helle Kies knirscht von den schwarzen, aufpolierten Schuhen. In der Eingangshalle, die nur von der zu engen Eingangstür erhellt wird, stellen manche ihre Schirme ab, die mit ihren gezackten Rändern an große Fledermäuse erinnern und die bis jetzt trocken geblieben sind. Zwischen den hohen, dunklen Fichten draußen sieht man oben getriebene Wolken, die jemand aus dunklem Samt zusammengekräuselt hat. Schwer zu sagen, ob es noch etwas wird mit dem Regen.

In der Aussegnungshalle ist es kühl, es riecht entfernt nach Blumen und wie nach tausendmal abgegriffenen Gesangbüchern, die Schritte und das Gemurmel der Trauergäste hallen in dem hohen Raum wider. Ganz vorne sitzen nur drei Personen, die Trauergäste füllen nach und nach die großzügig bestuhlten Sitzreihen dahinter und blicken auf den Sarg, der etwas seitlich der Mitte leicht erhöht auf einem Sockel steht, darauf, umrahmt von dunklem Holz, eine großformatige Fotografie einer Frau, lachend, mit roten Wangen. Zwei krause Kränze und etwas Blumenschmuck rahmen den hellen Holzsarg ein. Rechts befindet sich das Rednerpult, an dem sich noch jemand mit einem Kabel zu schaffen macht. Als der Bestatter an das Pult tritt, wird es still im Saal. Vom niedrigen Podest herab blickt man in die erwartungsvollen Gesichter, da sind die Freundinnen aus dem Frauenbund, die Nachbarn etwas weiter hinten, von der Gemeindeverwaltung ist tatsächlich jemand gekommen, zwei der ortsbekannten Honoratioren erkennt man und selbst die Genossenschaft hat zwei Trauergäste gesandt. Der Bestatter beginnt in ruhigem, angenehmen Ton zu sprechen, erzählt aus dem Leben der Verstorbenen, lobt ihre fleißige und aufrechte Art, die einem vielleicht manchmal nichts geschenkt hat, aber auf deren Ehrlichkeit man sich stets verlassen konnte. Es wird Musik gespielt, der erste Satz aus einem Violinkonzert. Man darf erwarten, dass gleich die diskreten Träger erscheinen und den Sarg durch die unauffällige Flügeltür hinausbringen und in das bereitstehende Fahrzeug laden.

Doch da geschieht etwas, eine Welle von Aufmerksamkeit, ein leises, vielstimmiges Rauen rollt Reihe um Reihe durch die Zuhörer. Ein junger Mann in einem schwarzen Anzug erhebt sich von seinem Sitz in der ersten Reihe, tritt an das Rednerpult und fingert einen raschelnden Zettel Papier aus der Innentasche der Jacke, den er mit zwei zögernden Bewegungen glättet. Das Zischeln verstummt.

Den Blick auf seine Notizen geheftet, beginnt der junge Redner:

„V-v-v-v… ver-ehrte T …“

Er stockt und die Zuhörer verwandeln sich in eine Wand ungläubiger Stille.

„…Trauergäste. Mmmm…“

Erneute Pause. Nun sitzen auch die Ahnungslosen unter den Zuhörern in einer steifen Schockstarre da.

„Meine Mmmm… Meine Mutter hat mmmm…“

Eine weitere Pause tritt ein, von der man nicht weiß, wann sie enden wird. Der angehaltene Atem der Zuhörer zieht die Momente in die Länge.

„ … hat mmm … hat mich geb … gebeten, hier zu …“

Ein Rascheln vom zigfachen Zurechtrutschen auf der Sitzfläche, vom Wegducken hinter dem Vordermann ist in der Stille des Redners hörbar.

„… reden. Ich wo… wollte das n-n-n…nicht. Aber ich mmm… “

Wieder entsteht eine Pause, in der zwei der Freundinnen aus dem Frauenbund sich leicht krümmen und auf dem Boden das Muster der Fliesen studieren. In einer der hinteren Reihen hält sich ein junger Bursche vom Sportverein eine Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken

„Aber ich m-m-musste es ihr ver …“

Die Worte verhallen ohne einen Anschluss im hohen Raum. Zwei Sitznachbarn nicht weit vom Mittelgang stoßen sich mit den Ellenbogen an.

„… versagen …“ Der Redner hält inne und wischt mit der Hand das letzte Wort ungeduldig aus der Luft.

„… v-v-versprechen, wie sie da so … l-l-l-l…lag, auf ihrem Sch…“

Einige Zuhörer schauen angestrengt auf die bunten, an Flaschenböden erinnernden Fenster, vor denen der Wind die Zweige rüttelt, so dass sie schemenhaft an den unebenen Scheiben zu erahnen sind.

„… Sch…Sterbebett. Sie schien i … Sie schien i … immer so sch …“

Jemand blickt auf die Armbanduhr, der Sekundenzeiger rückt vor und vor und noch weiter vor, ohne dass der Redner wieder einsetzt.

„ … immer so sch-sch-schmal und verletzlich. Dabei w…“

Draußen läutet eine Glocke dreimal. Von fern hört man eine Straßenbahn rumpeln.

„Dabei war sie so sch… stark, wenn es um ihren S … ihren S… Sohn ging.“

Eine Dame schnäuzt leise und tupft sich die Augen.

„Ich sch … ich stünde heute n-n-nicht hier, in doppeltem S-Sinn, wenn sie n-n-nicht gewesen w-wäre.“

Einige Kinder in den hinteren Reihen fragen ihre Eltern hörbar, was der hat. Die Erwachsenen zischen sie ruhig.

„Du ka … du ka …“

Wieder entsteht eine Pause, der Saal ist still, man hört das Ticken der großen Wanduhr.

„Du ka … du kannst alles sch… schaffen, was du w-w-willst, hat sie m-m-mir gesagt. Du ka … du ka …“

Der Redner weint, die Tränen rinnen ihm über das Gesicht, aber er nimmt keine Notiz davon.

„Du kannst sogar m-m-m-meine Trauerrede ha…“

Eine Kind flüstert hörbar: Der weint! Die Mutter zieht das Kind zu sich und legt sich den Zeigefinger auf die Lippen.

„ … halten. Du w-w-wirst sch… du wirst schon sehen.“

Nun nimmt der Redner doch ein Taschentuch, das ihm ein Angestellter des Beerdigungsinstituts anreicht, und wischt sich über die Wangen. Er trinkt einen Schluck Wasser.

„U-u-u… und sie hatte…“ kurze Pause „ … und sie hatte Recht!“

Nun mehren sich die Taschentücher im Zuschauerraum. Ein gemeinsames Rascheln, ein gemeinsames Schniefen der Erleichterung, ein kollektives Aufatmen ist unüberhörbar.

Der Redner sieht von seinem Blatt auf und blickt in die vielen Gesichter vor ihm, ein wenig trotzig wirkt seine gesenkte Kopfhaltung, er nimmt sich die Zeit, die Menschen direkt anzuschauen, vielen von ihnen geradeaus in die Augen zu blicken.

„Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.“ Fast verduzt wirkt der junge, blasse Mann darüber, dass er den letzten Satz völlig fehlerfrei sprechen konnte. „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Anteilnahme“, wiederholt er, als ob er sich des fehlerfreien Satzes vergewissern wollte. Er nickt dem Bestatter zu, faltet seinen Zettel zusammen und steckt ihn zurück in die Innentasche seiner Anzugjacke. Dann tritt er an die Flügeltür, öffnet sie und verharrt dort, bis die sechs Sargträger mit dem Sarg seiner Mutter den Ausgang passiert haben.


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