Dämmerung
„Frieden“, sagte die Stimme aus der düsteren Ecke.
„Ich weiß nicht“, antwortete Ka, „eher Gerechtigkeit. Ja. Meinst du nicht? Gerechtigkeit!“ Ihre Worte hallten ein wenig nach zwischen den kahlen Wänden.
„Gerechtigkeit? Und wenn Ungerechtigkeit, was dann? Krieg?“
Ka zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und legte das Kinn darauf, um nachzudenken.
„Was ist mit Freiheit?“ fragte die Stimme weiter.
„Pah!“ Ka stieß verächtlich die Luft zwischen den Lippen hervor: „Freiheit ist nur ein anderes Wort für Willkür. Die einen haben die Freiheit, alles zu tun, was sie wollen. Die anderen werden gefressen, getreten. Schöne Freiheit. Danke.“
Eine Weile legte sich Stille wie eine dicke Decke über den engen Raum. „Nein, nein, Gerechtigkeit,“ insistierte Ka.
„Oder Bildung?! Bildung ist die Grundlage für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für Frieden. Und für eine gerechte Verteilung von Freiheit“, sagte die Stimme aus der Ecke.
„Wie meinst du das? Bildung?“ fragte Ka nach und merkte, wie brüchig ihre Stimme war. Sie stellte sich vor, wie ihre spröden Lippen ihre schöne Stimme heiser und krächzend werden ließen.
„Ja, Bildung. Das ist Literatur, Kunst, Reisen, andere Kulturen kennenlernen, neue Gedanken, aber auch Mathematik und Logik. Wie soll man sich in andere Menschen einfühlen, wenn man nicht mit ihren Gedanken vertraut ist? Wie soll man eine Welt gestalten, wenn man die Regeln nicht kennt, nach denen sie funktioniert?“
„Hm“, machte Ka. Vor dem Fenster weiter oben zogen dunkelgraue Wolken vorbei und wenn man genau hinsah, konnte man noch die Krähen vorbeifliegen sehen. Der Wind zerzauste ihren Flug. „Dann ist Bildung aber nicht das Wichtigste. Sie ist nur ein Werkzeug, nicht wahr?“
In der Ecke blieb es merkwürdig still.
„Nicht wahr?“ wiederholte Ka nach einigen Momenten des Wartens, weil sie nicht mehr sicher wahr, ob sie ihren Gedanken wirklich ausgesprochen hatte.
„Ein Werkzeug wofür?“ meldete sich ihr Gegenüber schließlich.
Ka lachte kurz auf: „Für Gerechtigkeit …“ Einige Gedanken später fügte sie hinzu: „Wenn jemand ein Idiot ist, dann bleibt ihm nichts als sein Bauchgefühl. Dann kommen Hass und Habgier. Und Hochmut“
„Hochmut?“
„Ja, klar. Das Gefühl, ich muss mich nicht um andere scheren. Ich bin besser als andere. Wie die Bonzen … “
„Also Bildung?“ bohrte die Stimme aus dem sich ausbreitenden Dunkel der Ecke weiter.
Ka nickte nachdenklich: „Menschenbildung vielleicht, ja. Herzensbildung. Sich einfühlen können in andere. Sich im anderen wiedererkennen. Das könnte gut… “
Der metallene Riegel der Tür wurde mit einem scharfen Knall zur Seite gedonnert, die Zellentür flog auf.
„Mit wem reden Sie da?“ schnarrte die Stimme der Wächterin. Sie trug wie immer die enge, graue Uniform mit dem Barett auf dem streng nach hinten gestriegelten Haar. Ihr Gesicht war bis zur völligen Leere freudlos. Sie leuchtete mit einer Lampe in der Zelle herum, unter das Bett, hinauf zum Fenster, in das Dunkel der Ecken.
Dann fasste sie Ka am Arm: „Mitkommen!“