Pizzeria ist voll okay

Pizzeria ist voll okay

Baumann langweilte sich. Wenn er jetzt im Homeoffice wäre, könnte er die Beine auf den Schreibtisch legen und das wäre das Zeichen für seine Katze Halloween, die sofort auf den Schreibtisch springen und einmal über die Tastatur tänzeln würde, um sich dann auf seinem Bauch niederzulassen. Hier im Büro, das ein Kellerraum mit zwei länglichen Oberlichtern war, ging das schlecht. Also das mit den Beinen hochlegen. So blickte er scheinbar konzentriert auf einen seiner Monitore, sah aber nicht, was dort angezeigt wurde, sondern verlor sich in Tagträumen, in denen er immer irgendwie der Held war. Er hatte gar nicht bemerkt, wie die Frenzel ins Zimmer gekommen war. „Na, Langeweile?“ fragte sie spöttisch. „Nein, nein,“ beeilte sich Baumann zu versichern und es hörte sich an wie ein Schuldeingeständnis. „Du könntest mir einen Gefallen tun“, bohrte die Frenzel vorsichtig auf seinen Nerv, „die Performance des Netzes fällt seit Monaten, zwar wenig, aber stetig. Das geht so nicht weiter. Wir müssen mal nach den Ursachen forschen. Vielleicht irgendwelcher Ballast, den man mal bereinigen sollte?“ „Wir schauen uns das mal an…“, erlaubte sich Baumann eine kleine Frechheit. Die Frenzel lächelte säuerlich und verschwand wieder. Ok, also in die Gummistiefel und hinab in die IT-Kanalisation! Er zog sich die aktuellsten Performancedaten und Zeitreihen der jüngeren und dann der längeren Vergangenheit, erstellte Statistiken über tageszeitliche, wöchentliche und monatliche Periodizität, Verteilungen von Dateigrößen, Vergleiche in Subnetzen. Nichts deutete auf eine Besonderheit hin. Als er die Lebensdauerverteilung der Datenpakete analysierte, fand er etwas, das ihn interessierte. Jenseits der erwarteten Verteilung zeigte sich ein Rauschen bei unvernünftig hohen TTL-Werten, das er sich nicht erklären konnte: eine gewisse Zahl von Datenpaketen zeigte eine ungewöhnliche Lebensdauer. Als er sich von solchen Paketen, wo es möglich war, Zeitstempel der Nutzdaten anzeigen ließ, war er sich sicher, dass er auf einer heißen Spur war. Diese Pakete vagabundierten ganz offensichtlich seit Monaten und Jahren im Netz herum, lagen in irgendwelchen Eingangspuffern und wurden herumgereicht wie eine heiße Kartoffel, sie schienen nicht zu sterben. Konnte das eventuell die ständig steigende Blindleistung sein, nach der er suchte? Noch seltsamer war jedoch, dass manche dieser Zeitstempel in der Zukunft lagen. Jetzt spürte Baumann, wie sich die Härchen auf seiner Haut aufstellten, obwohl ihm die Vernunft sagte, dass das einfach ein Fehler in den Daten sein musste. Er vergaß seinen Arbeitsauftrag und widmete sich einer verrückten Idee: Könnte es sein, dass im Netz Datenpakete aus der Zukunft existierten? Henni und Bernd wollten ihn zum Essen abholen, aber Baumann winkte nur abwesend in Richtung Tür, sie sollten alleine gehen. Er machte sich daran, eine Email auszuwählen, deren Absendedatum in der Zukunft lag, eine kurze Antwort zu schreiben und – in Erwartung einer Fehlermeldung – an den Absender zu versenden. Es geschah: nichts. Keine Reaktion, weder positiv noch negativ. Er wiederholte den Versuch noch ein paarmal ohne Erfolg. Die Enttäuschung darüber wich einer Scham, dass er so etwas Dummes hatte glauben können. Außerdem knurrte sein Magen. Er wendete sich widerstrebend dem Blindleistungsproblem zu, um der Frenzel wenigstens einen ersten Status mitteilen zu können, wenn sie sich zufällig auf dem Gang trafen. Unter den offenen Fenstern auf seinen Monitoren lief offenbar noch ein Skript, dass die Anzahl der verdächtigen Datenpakete mit unplausiblen Datumsangaben zählte. Erst dachte Baumann, sich vielleicht getäuscht zu haben, aber als er länger auf die Zahl starrte, bemerkte er, dass diese hin und wieder um ein oder zwei Zähler anstieg. Fieberhaft filterte er eines der jüngsten Datenpakete heraus: „Hello world :-)“, Zeitstempel irgendwann in vierzig Jahren. Er durchforstete die andern Pakete: „Jemand zuhause???“ stand da und „uAwg“. Mit fliegenden Fingern klickte sich Baumann ein spezielles Mailprogramm zusammen, das solchen Nachrichten aus der Zukunft eine Landeplattform bot. Das Ganze funktionierte erst mal natürlich nicht, weil er unkonzentriert war, Fehler machte und in Gedanken bei diesem mysteriösen Phänomen war. Er hatte ja auch keine Testmöglichkeit. So musste er die Funktionen händisch auf ihre Logik prüfen, fand zwei Fehler, dann noch einen, aber schließlich sah er eine Liste der eingegangenen Nachrichten im Fenster seiner neuen Anwendung. Er zögerte nicht lange, wählte die uAwg-Mail aus und antwortete aufs Geratewohl: „Hi. Wer bist du?“ Die Antwort kam postwendend: „Sani. Du?“ Baumann tippte: „Alle nennen mich Baumann. Alias BigPrime. Ich mach hier Netzadmin.“ „Ich räume hier einige Archive auf. Spannend.“

„Deine Mails haben ein Datum aus der Zukunft…?!“ Nun dauerte es eine Weile. Als Antwort kam ein Screenshot, der den Kalender eines Betriebssystems zeigte. Der 4. August 2067 war als aktuelles Datum mit einem roten Ring markiert, wie man es sich auf einem Wandkalender im Finanzamt vorstellt. Baumann: „Du kannst nicht aus der Zukunft in die Vergangenheit telefonieren!“ Sani: „Ach nee? Nicht? Tschuldigung!“ Baumann versuchte einen Ausfallschritt: „Na, und das Vatermord-Paradoxon? Du beauftragst mich, deinen Vater zu ermorden und damit kann es dich in der Zukunft nicht geben.“ Die Antwort kam prompt: „Warum wollen alle die Väter ermorden? Ich dachte die Mütter sind das Problem.“ Baumann kicherte und schrieb, ohne nachzudenken: „Bist du m oder w?“ Er hatte die Senden-Taste noch nicht richtig losgelassen, als er sich schon über seine Gedankenlosigkeit ärgerte. Die Antwort ließ auf sich warten und Baumann dachte bereits, er hätte es verkackt. Dann kam: „Sagen wir, d? Hatte vergessen, dass ich es mit einem Neanderthaler zu tun habe. Mein Fehler.“ Baumann war froh über den rechten Haken, den er sich eingefangen hatte, und beeilte sich, das Thema zu wechseln: „Im Ernst mal, wie ist das mit der Zeit und der Kausalität? Hilf einem alten Mann mal über die Straße…“ Nun dauerte es wirklich lange und Sani musste offenbar etwas weiter ausholen. Baumann hastete hinüber zur Kaffeeküche und goss sich von der teerig-dunklen Flüssigkeit ein, die noch auf einer der Maschinen stand. Als er zurück an seinem Platz war, trudelte gerade die Antwort ein: „Also gut, anschnallen! Für euch in den Zwanzigern war Zeit so etwas wie ein Film, eindimensional und immer in die Zukunft gerichtet. Gut, da gab es schon die relativistische Verquickung von Zeit und Raum durch die Lorentz-Transformation. Aber Zeit ist, wie wir heute wissen, in Wirklichkeit ein komplexes, rückgekoppeltes, hochdimensionales Geflecht, in dem unendlich viele Möglichkeiten des Gesamtsystems gleichzeitig und nebeneinander existieren. Durch Entscheidungen oder Ereignisse, die in der Gegenwart stattfinden, kollabieren diese Möglichkeiten auf sogenannte Attraktoren des Systems, also auf solche Stabilitätspunkte, die in Übereinstimmung und konsistent mit der Zukunft sind. Nur solche Pfade manifestieren sich und stellen dann den Fluss der Zeit dar, den du kennst.“ Baumann las die Zeilen dreimal, aber der Nebel des Unverständnisses wurde dadurch nur dichter und dichter. Er hatte das Gefühl, eine bestimmte Frage stellen zu wollen, bekam sie aber nicht zu fassen. „Noch da?“, fragte Sani nach einiger Zeit. Baumann probierte: „Aber wieso kannst du Nachrichten aus der Zukunft in die Vergangenheit senden?“ Sani schien auf die Frage gewartet zu haben: „Genau! Meine Nachrichten an dich sind eben auch nichts anderes als bestimmte, konsistente Zustände des Gesamtsystems. Meine Aktivitäten heute und ihre frühere Wahrnehmung durch dich sind ein kausales Ensemble, ein erlaubtes Pärchen, wie soll ich das nennen…? Also keine Einbahnstraße, sondern ein holistisches Kontinuum. Geht das in dein Steinzeithirn? ;-)“ Baumann fühlte sich zunehmend unwohl, sein Verständnis von Kausalität wurde immer noch gegen den Strich gebürstet, aber er tat sich schwer, die physikalischen und philosophischen Konsequenzen von Sanis Darstellungen in der Zeit zwischen zwei Nachrichten in der vollen Breite zu ermessen. Oder auch nur in der Dicke einer Salamischeibe. Dann hatte er blitzartig die Idee, die seine Bedenken auf einen Punkt brachte: „Kannst du mir die Lottozahlen vom kommenden Wochenende durchsagen? Ich zahle dann die Hälfte des Gewinns auf ein Konto deiner Wahl ein. Abzüglich Zinsgewinn über vierzig Jahre.“ Sani schrieb: „Du verstehst die Attraktoren nicht. Ich kann jetzt die Zahlen raus suchen und versuchen, sie dir zu schicken. Aber die vielen potentiellen Möglichkeiten dieser Ereignisse, also vom Senden des Datenpakets bis zur Ziehung der Zahlen an deinem nächsten Samstag und alles, was damit zusammenhängt, kollabieren nicht auf einen Stabilitätspunkt. Du wirst die Nachricht entweder unleserlich erhalten oder erst zum Zeitpunkt der Lottoziehung.“ Baumann war einerseits froh, dass die Kausalität offenbar gerettet war. Andererseits hätte er das Geld ganz gut gebrauchen können und dafür gern auch die Kausalität den Bach runterschwimmen lassen. „Bisschen viel auf einmal?“, forschte Sani nach einiger Zeit etwas besorgt nach. „Hm“, textete Baumann, mehr als ein Pausenzeichen fiel ihm im Moment nicht ein. Sein Magen rebellierte, er konnte aber nicht zuordnen, ob das philosophisch-psychosomatischer Natur war oder darauf zurückging, was die Maschine da an Kaffee von sich gab. Dann ergänzte er: „Du kannst mir also nicht die Zukunft vorhersagen?“ Sanis Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Manches ja, manches nicht. Ich kann nicht einmal vorherbestimmen, welche Informationen du erhalten würdest und welche nicht. Das hängt davon ab, welche Attraktoren in diesem Kausalitätskontinuum – so nenne ich das jetzt mal – auf dem Weg von A nach B existieren. Machen wir einen Versuch?!“ „Klar. Wie?“ „Die Berliner S-Bahn wird bis zum Jahresende nicht mehr bis zum Flughafen fahren“, lautete Sanis nächste Mail. „Na und?“ fragte Baumann zurück und merkte dann erst, dass er schon wieder auf der Leitung stand. Sani spürte aber offenbar, dass sie Fortschritte machten: „Das ist, wenn du es erhalten hast, eine Information über die Zukunft in deiner Gegenwart, die aus meiner Vergangenheit kommt. Beides kann offenbar konsistent miteinander existieren. Piarg uih nuzgare agnmoui surr vhunikhu.“ Baumann hatte einen Hang zu kompakten Nachrichten: „He?“ Jetzt schien sich Sani köstlich zu amüsieren, denn eine Weile herrschte Funkstille. Vielleicht frequentierte er aber auch gerade seine Kaffeemaschine. „Das Ende der letzten Nachricht enthielt eine Information über den Fußballmeister der laufenden Saison. Es ist tatsächert nauster piduregah efnuhi uhter.“ Baumann begann zu verstehen. Oder sich zumindest an den Gedanken zu gewöhnen (wer kann das schon auseinanderhalten?): „Also so etwas wie die perfekte Verschlüsselung?“ „Das darfst du annehmen.“ Zwölfte Klasse Philosophie meldete sich nun in Baumanns Unterbewusstsein und diktierte in die tippenden Finger: „Ja aber wie ist das nun? Gibt es einen freien Willen oder ist alles vorherbestimmt?“ Sani erklärte: „Beides natürlich und zwar nebeneinander. Du kannst zwischen verschiedenen Attraktoren wählen, das ist dein freier Wille. Okay, du weißt a priori nicht, welche Attraktoren tatsächlich existieren, aber das stellt sich dann ja heraus, wenn die möglichen Verläufe der Geschehnisse kollabieren. Nur was entlang des gewählten Attraktors passiert, ist durch die Kausalitätsbedingung vorgegeben. Da ist es dann nix mehr mit freiem Willen.“ Baumann versuchte, eine Bilanz dieses ungewöhnlichen Diskurses zu ziehen: „Hört sich jetzt etwas egoistisch an, aber: dann kann ich also gar nicht von deinen Nachrichten aus der Zukunft profitieren? Irgendwie?“ Sani brauchte nun doch sehr lange für eine Antwort. So lange, dass sich Baumann mit einem Blick auf die Uhr entschloss, besser morgen weiterzumachen. Er kramte seine Tasche unter dem Schreibtisch hervor, schaltete die Monitore ab, machte das Licht aus und ging. Er hatte sich für später noch mit Johann zum Laufen verabredet. Was er erst am nächsten Tag sehen würde, es kam doch noch eine Nachricht von Sani: „Ich habe dich mal im Netz gescreent und einen alten Post von dir bei URHere gefunden. Du bist doch User ‚BigPrime‘? Sprich doch mal diese Frau in der Straßenbahn an, die dir jeden Morgen auffällt. Frag sie einfach: Schöner Tag heute? Sie wird antworten: Na, mal sehen?! Dann verabrede dich mit ihr zum Essen. Pizzeria ist voll okay.“