Weißer als das weißeste Weiß

Weißer als das weißeste Weiß

Am Freitag, dem 13. November 2150, wurde ich 20 Jahre alt und veröffentlichte das Tagebuch meines zweiten Lebens. Wir hatten das im Netz so vereinbart. All jene, die in diesem Netz quasi lebten, trugen mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher zur kollektiven Erinnerung bei. Seit ich mein drittes Leben begonnen hatte, hatte ich alle meine Erinnerungen meines zweiten Lebens zusammengetragen. Nun war es soweit. Ich schrieb das Bobbin auf das Netz und wartete auf Reaktionen. Es kamen allerdings nur die üblichen Bilder der Erinnerungen. Jemand postete neblige Felder vor einem Deich, weit und breit flaches Land ohne jeden Baum, ohne ein Haus. Die Scheinwerfer eines Autos schlängelten sich entlang einer Straße, die zwischen den Feldern nicht zu erkennen war. Hinter den weiten Wiesen wogten wellenartig dunkelgrüne, kniehohe Pflanzen im leichten Wind. Tiefhängende Wolken gingen am Horizont in den strukturlosen Nebel über. Das Auto passierte den Standort des Betrachters und entfernte sich in Form von zwei rotglühenden Rücklichtern in den weißgrauen Schwaden, die wie feine Gespinste über der Landschaft hingen. Dann lag alles still da. Nur die langen Halme der Wiesen neigten sich in der leichten Brise.

Ich prüfte das Bobbin und eventuelle Fehlermeldungen des Netzwerktreibers, fand jedoch keine Auffälligkeiten. Vielleicht benötigten die anderen etwas Zeit, natürlich benötigten sie die. Ein Bobbin sind 200 Gigabyte, nicht viel für ein Menschenleben, aber eine große Datenmenge, wenn man es konsumieren, analysieren und verstehen will. Im Bilderstrom auf dem Datenring kam nun als nächstes eine Anleitung, wie man eine Blues-Harp auseinander bauen und die Lamellen anfeilen muss, um danach ein perfektes Overblow zu erzielen. Die Finger im Bild nutzen eine filigrane Feile und einen schmalen, geradezu winzigen Schraubenzieher, mit denen nach und nach an allen Kanzellen die feinen Metallzungen angehoben und etwas abgeschliffen wurden. Anschließend bauten die Hände die Harp wieder zusammen und man hörte probeweise einige Riffs. Eine brüchige Frauenstimme sang dazu „Ich bau’ dir ein Schloss aus Urinstein…“

Mir ging durch den Kopf, wie es wäre, wenn ich ganz allein existierte, wenn da gar niemand anderes wäre im Netz, nur sporadische Videos, Texte, Audiodateien, die ein Server automatisch und zufällig aus seinem Datenvolumen auswählte und auf dem Ring postete. Aber irgend etwas musste ja da draußen sein, dachte ich weiter, denn immerhin führte ja jemand die Re-Starts durch. Ich ging noch einmal flüchtig einige Stellen des Tagebuchs durch, während auf dem Netz eine offensichtlich zerschossene Erinnerung vorbeiflackerte, in der ein Gehrungsschnitt in einem Sauvignon Blanc beschrieben wurde, der sich der Darstellung nach über mehrere Dörfer erstreckte, die Sequenz immer wieder durchsetzt mit digitalem Rauschen. Solche Fehler traten hin und wieder auf, da alle Informationen, die in ihrer Summe die kollektive Erinnerung ausmachten, in einem komplexen mathematischen Verfahren zerlegt wurden, um dann an den verschiedensten Orten verteilt gespeichert zu werden, ähnlich einer Wavelet-Transformation. Auch ich beherbergte Daten solcher Erinnerungen, jedoch konnte ich diese ohne die fehlenden Teile, die anderswo gespeichert lagen, nicht betrachten oder sonst wie nutzen. Erst für einen Post wurden die Teile wieder zusammengesetzt, wobei sich hin und wieder die beobachteten Fehler einschleichen konnten, wie ich vermutete. Umgekehrt war auch mein Bobbin bereits zerlegt und mit Gewissheit an tausende Stellen für eine sichere Aufbewahrung verteilt.

Die gerade laufende Sequenz von Erinnerungen zeigte ein Gebüsch, in dem jemand Müll und Unrat abgekippt hatte, darunter bunte Getränkedosen, Fast-Food Verpackungen, eine angerostete Radkappe. Etwas weiter rechts saß zwischen blühenden Birken ein kleiner Fuchs im hohen Gras, der eine blutende Wunde am Bauch aufwies und apathisch vor sich hinblickte. Das Bild wackelte ein wenig, wie von einer unsicher geführten Handkamera, der Bildausschnitt bewegte sich weiter, doch kehrte er mehrmals wieder zurück zu dem Tier im Gras.

Plötzlich erschien ein Kommentar zu meiner Tagebuchveröffentlichung. Ich spürte eine ungewohnte Aufregung, die in meinem ersten Leben aus dem Bauch gekommen wäre, die sich nun jedoch als eine Art flackerndes, nervöses Springen der Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Blickpunkten bemerkbar machte. Es handelte sich beim Urheber des Kommentars um einen Nutzer namens Varus, der mir unbekannt war, und er suchte nach einer detaillierteren Beschreibung des „Übergangs“. Ich hatte das, was mir in diesem Zusammenhang noch in Erinnerung geblieben war, im Tagebuch skizziert, es war ohnehin wenig genug. Vor dem Tod meines ersten Lebens waren die erreichbaren Inhalte meines Gehirns, meines Geistes, meiner Erinnerungen über eine elektronische Schnittstelle in meinem Kopf in digitale Daten transferiert worden, genauso wie bei allen Existenzen, die jetzt hier im Netz lebten. Es gab in meinem Fall aber offenbar eine Besonderheit, die ich nur vage mit dem Begriff Zwischenfall umschreiben kann. Der erste Transferversuch war wohl wegen einer Unregelmäßigkeit abgebrochen worden und in diesem Zusammenhang wurde eine ausführliche Fehlermeldung erzeugt, die weitreichende technische Informationen enthielt. Diese Fehlermeldung war beim zweiten Transferlauf, der schließlich erfolgreich abgeschlossen werden konnte, mit in mein Datenvolumen abgespeichert worden, vermutlich aus Versehen, aus Unachtsamkeit. Ich konnte mit diesen sehr umfangreichen, hexadezimal kodierten Information jedoch absolut nichts anfangen, das war nur etwas für erfahrene Spezialisten. Bei Varus, so vermutete ich, konnte es sich um solch einen Spezialisten handeln. Ich antwortete ihm vorsichtshalber mehr höflich als freundlich und erkundigte mich nach seinen Erinnerungen. Er lebte zur Zeit sein viertes Leben, das er als öd, trostlos und unbefriedigend beschrieb. Er erzählte von den immer wiederkehrenden, gleichartigen Einspielungen im Netz, von denen er sehr viele bereits kannte und von denen die neueren, unbekannten meistens große Ähnlichkeiten mit alten, schon gesehenen Einspielungen hatten. Am aufdringlichsten waren für ihn die Schnipsel von alten Werbespots, die immer wieder im Strom der veröffentlichten Erinnerungen mitschwammen und mit dämlichen Jingles unterlegt waren. Muskulöse Hunde flogen in Zeitlupe über saftige Wiesen, Runden von schönen, jungen Menschen trafen sich in aufgesetzter Fröhlichkeit am Strand oder am Lagerfeuer, eine Frau hängte weichgezeichnete, grell weiße Betttücher auf eine Wäscheleine unter strahlend blauem Himmel. Weißer als das weißeste Weiß, lautete der Werbeslogan dazu und Varus war in seiner Erzählung die Abscheu anzumerken. Mein Tagebuch war für ihn seit langem das erste wirklich originelle und spannende gewesen. Mich machte das ein bisschen stolz und ich bedankte mich für seine Worte, die ich als Lob verstand. Ganz behutsam lenkte Varus dann unsere Konversation auf die Daten der Fehlermeldung von meinem ersten Transferlauf und erkundigte sich, ob ich diese Daten noch hätte und frei darüber verfügen könnte, wie groß das Datenvolumen genau sei und welche Kodierung dem zu Grunde läge. Ich beantwortete die Fragen, so gut ich es verstand, während gleichzeitig Bilder aus dem Blickwinkel eines Autocockpits vorbeiflimmerten, die eine Fahrt auf Serpentinen hoch über einer Steilküste zeigten. Das Interesse meines virtuellen Gegenübers an unserem Gespräch wuchs mit meinen Antworten spürbar. Dann kam der Punkt, an dem Varus mich fragte, ob ich ihm diese Informationen zur Verfügung stellen könnte. Ich zögerte, da ich über die genauen Details des Dateninhalts ja keinerlei Kenntnis hatte, und gar nicht wusste, was ich da gegebenenfalls preisgab. Dazu kam ein Unbehagen, das sich dadurch ausdrückte, dass mir eine passende Frage nicht einfallen wollte. Schließlich wusste ich, was mich hemmte. Ich fragte Varus, wofür er diese Daten benötigte, die für ihn im Gegensatz zu mir ja irgendwie einen Sinn zu ergeben schienen. Nun war es Varus, der zögerte. Dann gab er sich offenbar einen Ruck und bot mir an, mittels eines kleinen Programms eine sichere Verbindung aufzubauen. Meine Verwunderung wuchs und nährte eine ungekannte Neugier. Ich willigte ein und wir bauten den verschlüsselten Kanal auf, über den ich sofort fragte: „Warum diese Geheimnistuerei?“ Varus gab sich aus seinem ersten Leben als IT-Experte zu erkennen und hatte in den späteren Leben, wo es möglich war, weitere Erkenntnisse über das Netz gesammelt. „Warum, meinst du“, so fragte er, „ist unsere Topologie hier ein Ring und kein richtiges Netz? Weil sie so einfacher alles mithören können!“ „Sie?“, fragte ich, „wer?“ „Was weiß ich. Die Betreiber dieses Netzes natürlich. Keine Ahnung, wer das genau ist, wir haben hier drinnen ja keinerlei Sinnesorgane, kein Fenster in die Außenwelt. Kann sein, es sind einfach unsere Nachfahren. Die betreiben vielleicht das Netz wie eine Art Aquarium und betrachten uns hin und wieder, wenn sie Langeweile haben. Oder aber es sind bereits tausend Jahre ins Land gegangen, das Leben auf der Erde ist erloschen und die Hardware unseres Netzes befindet sich auf einem Raumschiff als letztes Lebenszeichen der Menschheit, als letztes Signal einer vergangenen Zivilisation sozusagen.“ Es entstand eine längere Pause, in der wir beide den Bildern nachhingen, die Varus da für uns entworfen hatte. „Irgend jemand muss aber da draußen sein, denn es werden ja die Re-Starts durchgeführt“, gab ich zu bedenken und kam mir so vor, als sei ich dem Spezialisten gleichberechtigt und ebenbürtig. „Sonderlich intelligent scheinen sie allerdings nicht zu sein“, hielt er dagegen, „wenn unsere Systemzeit stimmt, haben sie in hundertdreißig Jahren keine nennenswerten technischen Fortschritte gemacht. Unsere Treiber, die Wavelet-Transformation, alles ist, wie vor langer Zeit gehabt. Und dann die immer wieder auftretenden Fehler in den geposteten Bildern und Sequenzen. Re-Starts könnten auch automatisch durch einen Administrationsserver erfolgen. Wir wissen nichts. Absolut nichts. Wir führen ein unendliches Leben, wir sind wahrhaft unsterblich. Aber das für uns Erlebbare in dieser unendlichen Zeit ist begrenzt, sehr begrenzt, wie ich finde. Mit der Zeit geradezu nervtötend eintönig. Schmerzhaft, würde ich es nennen, wenn ich noch in meinem ersten Leben wäre.“ Ich begann zu verstehen, wovon er sprach und betrachtete für einige Momente eine gepostete Erinnerung einer von brütender Sonne flimmernden Straßenszene, in der zwei junge Frauen in weiten, wehenden Sommerkleidern den weichen Asphalt der Straße überquerten und nach einer Adresse zu suchen schienen. Schließlich betraten sie eine kleine Bar, die etwas versteckt in einem schattigen Hauseingang lag. Der Barkeeper hinter dem verwaisten Tresen bereitete für seine braungebrannten Gäste kalte Drinks und man konnte die feinen, blonden Flaumhaaren auf der Haut der Frauen erkennen. Der Barkeeper erläuterte ihnen, dass er immer zwei Sorten Eis benötigte, nämlich wässriges Eis, um die Gläser vorzukühlen, das aber weggeschüttet würde und das er dann durch tiefgefrorenes Eis ersetzte, um die eigentlichen Drinks lange kalt zu halten. Ich musste mich gewaltsam von der Szene losreißen und fragte Varus, wofür er die Daten aus meiner ominösen Fehlermeldung denn nun eigentlich verwenden wollte. Er erklärte mir, dass das stark von dem Inhalt der Daten abhinge. Vielleicht erlaubte der Einblick in die technischen Abläufe des Transfers ja eine Art Ausbruch. Das wäre sein Traum. Ein Blick durch eine in das System gehackte Lücke in die Welt außerhalb des Datennetzes. Eine Verbindung zu Servern außerhalb unseres Netzes, vielleicht sogar zu Sensoren und Kameras, die uns Bilder der Welt um uns herum liefern könnten. Vielleicht, aber das wäre natürlich eine Spinnerei, könnte man auf diesem Weg sogar unser Netz, unseren Ring verlassen und in andere Datenwelten verschwinden. Er träumte davon, seine Wahrnehmung zu erweitern, wobei er das Wort „wahr“ extra betonte. Aber, so schloss er seine Ausführungen, wenn all das nicht möglich sei, und es gäbe eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit hierfür, würden die technischen Einzelheiten des gescheiterten Transferprozesses auch nur – nun ja, die Möglichkeit eines Selbstmords eröffnen. Ich stockte in all meinen Aktivitäten und meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich schlagartig voll und ganz auf diese Variante. Ein Selbstmord. An so etwas hatte ich bisher nie gedacht. Ich muss zugeben, dass ich in meinem Leben bisher nicht den Überdruss und die Langeweile empfand, die Varus beschrieben hatte. Aber es war mehr als nachvollziehbar, dass sich mit der wachsenden Zahl der gelebten Leben dieser Überdruss unausweichlich einstellte und größer und größer wurde. Selbstmord. Ein Lehrvideo über den Aufbau der DNA hatte die Barszenerie mit den jungen Frauen abgelöst. Die Nukleinbasen schwammen als schematische Farbblöcke in einer hellblau dargestellten Flüssigkeit herum und wurden an einen aufgespleißten DNA-Strang angelagert und dann zu einer Kopie der Basensequenz verbunden. Gelbe Cytosin-Blöcke fügten sich in grünes Guanin, blaues Adenin in rotes Thymin, und die Basen erkannten ihr Gegenüber an den charakteristisch geformten Enden, die komplementär in einander passten. Es folgten Bilder von genetischen Varianten bei Erbsen und Schmetterlingen. Selbstmord. Dieser Gedanke bildete ein neues Kapitel in meinem Bewusstsein, einen neuen Raum hinter einer bisher verborgenen Tür. „Was ist jetzt mit dem Fehlerbericht?“, fragte Varus direkt. Eine lange Pause hatte sich mittlerweile in unsere Konversation eingenistet. „Ja, klar“, schickte ich zurück, obwohl das eigentlich als Antwort gar nicht auf seine Frage passte, „hältst du mich auf dem Laufenden, was weiter geschieht?“ Ich richtete ihm einen Link auf den fraglichen Datenblock ein und beobachtete, wie die Daten kopiert wurden. „Ich melde mich“, versprach Varus und beendete die sichere Verbindung.

Ich hörte dann doch länger nichts von ihm. Meine veröffentlichten Tagebuch-Sequenzen erhielten einige positive Rückmeldungen, manche Kommentare verglichen die dargestellten Sequenzen mit eigenen, ähnlichen Erfahrungen. Meine grammatikalisch korrigierte Umdichtung „Kinder, horcht! Wer rät, was im Ofen brät?“ fand einige Resonanz, ebenso der Duschvorhang, den ich mittels wasserfestem Filzstift mit der historischen Entwicklung der Gravitationsgesetze von Kepler über Newton und Einstein bis Witten beschriftet hatte. Das Malheur mit dem Bücherregal sorgte dagegen für Heiterkeit. Ich hatte einmal ein Holzregal an die Wand einer Altbauwohnung gedübelt, die Wand entpuppte sich jedoch im Laufe der folgenden Nacht als eine Mischung aus Flusskiesel, Mörtel und Stroh, weil nämlich die Dübel aus der Wand rissen und faustgroße, trichterförmige Löcher zurückließen. Das Regal stürzte krachend ab und wurde ausgiebig mit einem Gemisch der Baumaterialien berieselt.

Die Zeit verging, wie ich an der Systemuhr verfolgen konnte, ich gab mich den Geschichten und bebilderten Erzählungen aus anderer Leute Leben auf dem Netz hin und wartete auf Nachrichten von Varus. Dann erschien irgendwann ein Post im ewigen Strom der Erinnerungen, der Bildersequenzen in einem verwinkelten Hinterhof zeigte, zwischen planlos aneinander gebauten, ergrauten Ziegelhäusern. Metallene, verbeulte Müllkübel standen in einem Unterstand mit der unmissverständlichen Anweisung, keine heiße Asche einzufüllen, und eine getigerte Katze streunte misstrauisch herum. Die ehemals weiße Farbe der Fensterrahmen im Hochparterre platzte wie eine blatternartige Erkrankung ab. Über den Regentraufen sah man vor den schmutzigen Pudertupfern der Wolken einige Krähen vorüberziehen. Und da war es! An einer der Hauswände hatte jemand mit weißer Farbe das geometrische Gittermuster der Ziegel mit einem Schriftzug ausgemalt: „Weißer als das weißeste Weiß. V.“. Mir war sofort kristallklar, dass dies eine versteckte Nachricht an mich darstellen sollte. Die Videosequenz lief weiter, zeigte einen Hofdurchgang, in dem zwei alte Frauen mit Kopftüchern standen und tratschten, und endete auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße am weiten Haustor, vor dessen grünem Fensterglas ein mit rotem Samt bezogener Biedermeierstuhl auf dem Gehweg stand. Die Straße oder das Haus waren mir nicht bekannt. Man hätte sie in die Altstadt von Prag verorten können oder genauso gut nach Paris oder Regensburg. Aber der Schriftzug! Hatte er es geschafft? War Varus ausgebrochen? Und war es dort, wo er sich jetzt befand, alles grell weiß? Warum sonst gerade dieser Slogan? War es gut, dort zu sein oder war es, wie im Werbespot, unsinnig? Warum wählte er gerade die Bilder dieser Erinnerung, um mir eine verklausulierte Rückmeldung zu geben? Vielleicht, um mich nicht durch einen direkten Kontakt zu gefährden? War es denn gefährlich? (Was konnte einem hier im Netz schon passieren?) Wollte er die Spuren seiner Flucht verwischen? Ich konnte die vielen Fragen, die auf mich einstürmten nicht einmal in eine vernünftige Reihenfolge bringen, geschweige denn beantworten. Die folgende Zeit verbrachte ich mit Hypothesen, die ich aufstellte, gegen die wenigen bekannten Fakten abprüfte und wieder verwarf, verwerfen musste, weil nichts einen Sinn ergab. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Varus irgend einen Weg aus dem Netz heraus gefunden hatte und zusätzlich einen verschlüsselten Weg, mich davon in Kenntnis zu setzen. Ich fragte mich, ob ich ihn beneidete, konnte aber auch darauf keine Antwort finden.

Kürzlich geschah es dann. Ich erhielt zu meinem Tagebuch einen Kommentar von Varus. Er fragte mich nach den Details meines misslungenen Übergangs und nach der dabei erzeugten Fehlermeldung. Ich war verwirrt und misstrauisch und fragte zum Schein, ob wir uns von früher kennen. „Mag sein“, antwortete er, „mag sein in einem meiner letzten Leben, vielleicht in meinem vierten. Ich hatte kürzlich einen Re-Start.“ Im Strom der geposteten Erinnerungen erschien gerade eine strahlend lächelnde Frau mit einer blonden Lockenfrisur, die Bettwäsche auf eine Leine hängte. „Weißer als das weißeste Weiß“ sagte sie stolz zum Betrachter gewandt.