Andererseits

Andererseits

Felix klingelte am Tableau neben der alugefassten Haustür und nach wenigen Sekunden summte der Öffner. Im zweiten Stock stand er vor der verschlossenen Wohnungstür und klingelte erneut. Eine schlanke Frau von vielleicht 30 Jahren öffnete die Tür. Sie trug enge Jeans und ihre langen, dunklen Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. „Felix“, stellte er sich vor, „Ist Sonja da?“ Die streng frisierte Frau nickte ihm zu: „Henriette. Ich bin hier die Betreuerin. Komm rein!“ Die Wohnung sah aus wie aus einem Ikea-Katalog. Hier und da war eine kleine Unordnung drapiert, ein Paar Schuhe lag neben dem Schuhschrank, auf einer Anrichte im Flur sah man einige Briefe aufgefächert, auf einen Stuhl neben der Garderobe hatte jemand achtlos einen Pulli hingeworfen. „Sonja ist bestimmt gleich fertig. Komm doch solange in die Küche. Willst du was trinken?“ Felix schüttelte den Kopf. „Ich möchte kurz mit dir reden“, erklärte Henriette, drängte Felix auf einen der Stühle am Küchentisch und schloss die Küchentür. Felix wurde es unangenehm schwach in der Magengrube. „Ein offenes Wort!“ ordnete Henriette die Dinge in einer ruhigen, aber sehr bestimmten Art, „Könnte sein, Sonja ist in dich verknallt, mal daran gedacht?“ Felix nickte bekümmert: „Hm.“ „Damit keine Missverständnisse aufkommen: du wirst Sonja gut behandeln. Verstehen wir uns?“ „Ich … ja, ich meine …“ stotterte Felix. „Du musst wissen, Sonja ist 23, sie ist eine erwachsene Frau, mit allen Bedürfnissen, die damit verbunden sind. Es ist vollkommen okay, wenn ihr Sex habt. Sonja nimmt die Pille.“ Felix versuchte mehrfach, seinen trockenen Mund durch Schlucken zu befeuchten. Henriette fuhr fort: „Aber der wichtige Punkt ist, Sonja hat keinerlei kritische Distanz zu Emotionen. Ich will damit sagen, sie nimmt alles für bare Münze, was du ihr versprichst. Brich ihr nicht das Herz, okay?“ Felix fühlte sich wie kurz vor einer Kollision mit einer Dampfwalze. „Ich will nur das Beste für sie“, hörte er sich sagen, wollte aber eigentlich ausdrücken: ich weiß nicht, was ich tun soll. Während er noch nach Worten kramte, öffnete sich die Tür und eine bezaubernde junge Dame trat herein. Der blonde Bubikopf federte bei jedem Schritt, die atemberaubend geschminkten Augen wanderten durch den Raum, sie trug eine weite, weiße Bluse, die trotzdem ihre Oberweite in berückender Weise zur Geltung brachte, und eine elegant schwingende Hose. Schwarze Pumps rundeten das Bild ab. „Felix. Du bis da!“ wisperte Sonja sichtlich erfreut. Felix ging auf Sonja zu und staunte: „Du siehst so toll aus!“ Sonja strahlte erst, dann nickte sie verlegen: „Henni hat mir geholfen.“ Henriette stand von ihrem Platz am Tisch auf, warf Felix einen vielsagenden Blick zu, wünschte den beiden einen schönen Nachmittag und verließ die Küche. Felix berührte Sonja am Arm und etwas linkisch schlug er vor: „Geh’n wir?“ Im Flur trafen sie auf Willem, einen vielleicht zwanzigjährigen Burschen mit Down Syndrom, dessen Unterlippe ein wenig herabhing und dessen eine Seite des Hosenträgers achtlos herabhing. „Geht ihr in die Stadt?“ fragte er neugierig, und als Sonja bejahte, umarmte er sie spontan, rückte seine Brille wieder gerade und machte Sonja ein Kompliment für ihr Aussehen. Sonja stellte die beiden jungen Männern einander vor. „Bist du Sonjas Freund?“ fragte Willem rund heraus. „Ich bin ein Freund von Sonja“, korrigierte Felix freundlich, war sich aber nicht sicher, ob die Feinheiten der Formulierungen verständlich waren. „Ich bin auch ein Freund von Sonja“, strahlte sein Gegenüber und Sonja fasste den lose herabhängenden Teil des Hosenträgers und zog ihn Willem über die Schulter. Sie deutete auf den Pullover über dem Garderobenstuhl und meinte „Wir dürfen unsere Sachen nicht herumliegen lassen!“ Willem griff sich mit einem verschmitzten Grinsen den Pullover und umarmte Sonja nochmal zum Abschied, dann umarmte er Felix, rückte seine Brille zurecht und verschwand in seinem Zimmer. Sonja und Felix machten sich auf den Weg.

Sonja ging stolz neben ihm, die hohen Absätze ihrer Schuhe ließen sie erwachsen und fraulich erscheinen. Sie gingen ein Stück am Fluss entlang und bogen rechts in die Kopfsteingassen der Altstadt ab. Es war ein Sonntagnachmittag und viele Pärchen und Familien flanierten an den Schaufenstern der kleinen Geschäfte vorbei oder saßen in den Straßencafés. Felix kam es so vor, als zögen sie die Blicke der Menschen auf sich, manche eher verstohlen, andere offensichtlich neugierig. Sonja schien das gar nicht zu bemerken, oder vielleicht ließ sie sich auch einfach nichts anmerken. Sie genoss ganz offensichtlich die Sonne zwischen den blühenden Bäumen und sicher auch ihr attraktives Aussehen. Auf ein kleines, italienisches Eiscafé deutend befand sie: „Hier ist das Eis am besten.“ Felix rückte ihr den Stuhl an einem der kleinen Zweiertische zurecht und setzte sich neben sie, so dass ihnen die Sonne direkt ins Gesicht schien. „Sonja hört sich an wie Sonne und wie ja“, stellte sie fest, zog eine Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte sie auf. Wieder sah sie komplett verändert aus, ihre Erscheinung ließ keinerlei Anzeichen von Down Syndrom mehr erkennen. „Dann trägst du jetzt also eine Sonjabrille!“ scherzte Felix. Sonja wandte sich verblüfft zu ihm um und begann zu lachen. Sie studierten Schulter an Schulter die verlockend bebilderte Karte und bestellten abenteuerlich klingende Eisbecherkreationen, die sich als wahre Eisberge entpuppten und die sie begannen abzutragen. „Die Menschen sehen uns an. Ist dir das aufgefallen?“ fragte Felix. Sonja blickte ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille an: „Alle Leute gucken immer. Ich achte gar nicht darauf.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Findest du es blöd, wenn die Leute gucken?“ Felix hatte tatsächlich ein Unwohlsein empfunden, als sie eben in den Straßen von den entgegenkommenden Passanten gemustert worden waren, aber er schüttelte den Kopf. Er wollte dieses Unwohlsein nicht wahr haben, es durfte nicht wahr sein, schon aus Prinzip. Sie kämpften gegen die Eis- und Sahnegebirge in den Schalen vor ihnen und ließen sich gegenseitig probieren. Sonja hielt Felix ihren Löffel entgegen, den sie sorgsam mit Pistazieneis, Sahne und Schokosoße drapiert hatte. Felix revanchierte sich mit einem Löffel Stracciatella und Eierlikör. Nach der bedingungslosen Kapitulation der Kalorienbomben zog Sonja ihr Portemonnaie aus der Handtasche und zahlte und Felix fiel jetzt erst auf, dass sie sich die Fingernägel dezent lackiert hatte. Er bedankte sich für die Einladung und sie schlenderten Seite an Seite die Flusspromenade entlang. Sonja nahm wie selbstverständlich Felix bei der Hand, wie sie es sicher auch mit Willem machte, und Felix ließ es verwirrt geschehen. Einerseits empfand er für Sonja wie für eine Schwester, die es zu beschützen und zu fördern galt. Andererseits war Sonja eine Frau, sogar eine recht attraktive Frau, wenn sie es darauf anlegte. Aber das war nicht Sonjas Art, es darauf anzulegen, entschied er, wie sie jetzt so arglos mit den Armen schlenkerte und sich über einen kleinen Jungen freute, der die Enten fütterte. „Ich möchte auch mal Kinder haben“, gestand sie. Das Thema behagte Felix nicht. Er hatte keine Ahnung, ob Sonja realistische Chancen auf eine Schwangerschaft und eine problemlose Geburt hatte. Außerdem empfand er alle Fragen rund um Partnerschaft als dünnes Eis, das er nicht vorhatte zu betreten. Doch Sonjas Neugier ließ sich offenbar durch sein Schweigen nicht ermüden: „Willst du mal Kinder haben?“ Felix machte eine verlegene Geste mit der Hand an seinem Kinn: „Ich weiß nicht. Es gibt Leute, die meinen, ich sollte selber erst mal erwachsen werden. Das ist vielleicht keine vorteilhafte Voraussetzung, eigene Kinder zu bekommen.“ Sie gingen mit schlenkernden Armen ein Stück, bis Felix ergänzte: „Ich stelle es mir schwer vor, ein guter Vater zu sein.“ Sonjas Gesicht verdüsterte sich, als habe jemand einen Vorhang vorgezogen, jedoch konnte Felix ihre veränderte Stimmung nicht deuten. Sie schwiegen, bis er meinte: „Ich muss, glaube ich, langsam zum Bus.“ Da brach es aus Sonja hervor: „Mein Vater ist weg.“ „Wie, weg?“ „Als ich geboren wurde, ist er weggegangen.“ „Hat deine Mutter dich allein großgezogen?“, hakte Felix nach. Sonja nickte trotzig. „Und hast du Kontakt zu deinem Vater?“, forschte Felix weiter. Diesmal schüttelte Sonja mit unverändert trotziger Miene den Kopf. „Du hast ihn die ganze Zeit nicht gesehen?“ Felix war fassungslos, Sonja schwieg. Sie tat ihm ein weiteres mal Leid und er schämte sich, dass sein eigenes Leben so glatt verlaufen war bis auf die Probleme, die er selbst ins Leben gerufen hatte. Manche Menschen wurden geprüft und manche bestanden diese Prüfung vielleicht nicht. Aber er selbst war nie geprüft worden. Sonja dagegen war geprüft worden und, soweit er sie kannte, hatte sie ihre Prüfungen erfolgreich absolviert. Sie erreichten den Bahnhof, wo der Bus in einer Haltebucht parkte. Felix wandte sich Sonja zu und bedankte sich für den Nachmittag. Sie standen einen Moment befangen voreinander und sahen sich in die Augen, bis Sonja ihn umarmte, und Felix spürte ihren Körper eng an seinem, ihre Wange an seiner Wange. Sie bemerkten nicht, dass der Busfahrer und zwei Fahrgäste ihnen zusahen, als handele es sich um die Schlussszene eines Kinofilms. Sonja wollte Felix gar nicht mehr loslassen. Irgendwann startete der Dieselmotor, man spürte förmlich die Vibrationen des Gefährts. Felix löste sich aus der Umarmung und wurde sich einmal mehr der weiblichen Erscheinung Sonjas bewusst. Er berührte sie am Arm, nickte ihr zu und stieg ohne weitere Worte ein. Die Tür schloss sich automatisch hinter ihm und der Bus wälzte sich wie ein Walfisch in den spärlichen Straßenverkehr. Felix sah Sonja durch die schmutzigen Scheiben auf dem Gehweg stehen, sie blickte ihm nach, bis sie an der nächsten Straßenecke den Sichtkontakt verloren.