B-83 / IV
Unscheinbar in der dienstblauen Dämmerung liegt am Rande der Stadt die menschenleere Bewahranstalt für gebrochene Vorsätze. Nur ein leicht gebeugter Lagerist im grauen Kittel mit Nickelbrille und einem weißen Haarschopf führt schlurfend einen Besucher durch die Regallager:
„Selten, dass jemand seinen gebrochenen Vorsatz zurück haben möchte. Sehr selten.“
Er weist nach rechts und links:
„Das meiste ist nur billiger Plunder. Hier: gesünder leben, mehr Bewegung, da: maßvoller genießen, da drüben: freundlich und hilfsbereit sein, mehr Zeit für die Kinder. Alles Massenware mit Sollbruchstelle, wertloses Zeug.“
Er deutet in eine dunkle Ecke, nur stroboskopartig beleuchtet vom nervtötenden Flickern einer defekten Leuchtstoffröhre: „Unsere Problemfälle: Trunksucht, Spielsucht, Jähzorn, Gewalt.“
Im Schein einer tiefhängenden Schirmlampe blättert der Lagerist durch Karteikarten in einem hölzernen Registraturschrank: „Und Sie? Welches Jahr?“
„Ich hatte mir vorgenommen, Weihnachten meine Tochter anzurufen.“
„Oh, diese Art von Vorsatz! Sehr kostbar, wird schnell zu einer verpassten Chance. Warum ist er gebrochen?“
„Angst. Ich … ich habe etwas falsch gemacht.“
„Warum fassen Sie den Vorsatz nicht einfach neu, wie es alle tun?“
„Nein. Nein, nein, es muss mein alter Vorsatz sein, auch wenn er gebrochen ist. Ich werde ihn reparieren. Wenn er neu gefasst wird, ist er nichts wert. Lieber geflickt.“
Die Karteikarte sagt: B-83 / IV, erster Stock. Während sie die eiserne Wendeltreppe hinaufsteigen, fragt der Besucher: „Warum bewahren sie das alles hier auf?“
„Gebrochene Vorsätze liegen nur störend im Weg, sie müssen weg. Aber sie enthalten auch einen Kern aus Wahrheit. Es sind persönliche Dinge, nichts was man einfach auf eine Halde kippt.“
Aus einem der Regale zieht der Lagerist einen grauen Karton, unter dem Deckel quillt Holzwolle hervor. „Bitte sehr. Hier quittieren.“ Der Besucher schüttelt den Karton behutsam und drückt ihn dankbar an seine Brust. Er hat es plötzlich eilig. Der Lagerist lächelt ihm nach.