Egal
von Paul Wlaschek (c) 2023
Es ist nun schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal im Labor war, zwei, vielleicht drei Jahre. Seitdem hat sich viel verändert. Die gefeierten Erfolge sind längst vergessen, stehen nur noch in vergilbten Fachzeitschriften. Die Technologien sind heute zur Alltäglichkeit geworden, ihre Auswirkungen aber haben unsere Welt auf den Kopf gestellt. Ich frage mich allerdings nicht selten, ob unsere Arbeit einen Anteil an den Entwicklungen hatte, die seither geschehen sind, oder ob alles doch irgendwie so kommen musste.
Aber am Anfang ist man ja immer euphorisch und bedenkt nur wenig die möglichen Folgen. Ich weiß noch, als wir unsere ersten Prototypen in Betrieb nahmen. Unsere Entwicklungen hatten die Empfindlichkeit für den Nachweis aus dem Stand um einen Faktor 1000 erhöht und wir hatten noch gar nicht mit einer Optimierung begonnen. Wir waren besoffen von den Möglichkeiten, diskutierten fieberhaft, mehr als einmal bekam ich mitten in der Nacht Anrufe von einem Kollegen, der eine Idee für eine weitere Verbesserung hatte oder neue Pläne für Anwendungen. Ein Problem machte uns anfangs ganz besonders zu schaffen, wir meinten eine geraume Zeit lang, es handele sich um einen Fehler, ein Rauschen vielleicht oder ein noch ungeklärtes Phänomen in der Methodik. Und genau das sollte zu einer der bedeutendsten Entdeckungen in der Geistesgeschichte der Menschheit werden.
Es war eine der vielen Besprechungen unserer vergangenen Arbeitswoche, in der wir vor den Messkurven saßen, die der Einfachheit halber an die weiße Laborwand projiziert wurden. Eine Reihe kleiner Signale störte unsere eigentliche Messung. Wir nutzen eine Kombination von drei Verfahren, um hochempfindlich feinste Stoffmengen in der Luft nachzuweisen, genauer gesagt: zu identifizieren und quantitativ zu bestimmen. In unserem Versuch hatten wir verschiedene Proben mit Testsubstanzen in verschiedenen Konzentrationen hergestellt, die unsere Apparatur auch zuverlässig erkannte und deren Konzentrationen ermittelte. Aber in allen Messungen aller Proben waren zusätzliche, zwar kleine, aber doch gut erkennbare weitere Signale. Fehler in der Apparatur und in der Methodik konnten wir routiniert und schnell ausschließen, so blieb nur eine Möglichkeit: die zusätzlichen, unerwarteten Signalmuster waren immer in der Laborluft enthalten, mit der wir die Proben herstellten, um realistische Bedingungen zu präparieren. Lediglich in hochreinen Gasproben fehlten die Signale. Wir nahmen in Kontrollversuchen die Luftproben an verschiedensten Orten und konnten die zusätzlichen Muster überall detektieren, jedoch fiel auf, dass die Signale in Waldluft am stärksten waren und dass die Muster je nach Tageszeit variierten. Da saßen wir in unserer Besprechung und hatten nach allen erdenklichen Quertests nur eine mögliche Antwort auf unser Problem: die Pflanzen im Wald, speziell die Bäume erzeugten systematisch bestimmte Signalmuster, indem sie in mikroskopischem Maß bestimmte Stoffe und Stoffgruppen emittierten. Wir waren elektrisiert, als wir endlich unsere Zweifel aufgaben. Wir hatten die Bäume bei ihrer Konversation belauscht.
Nun war es seit langem bekannt, dass Pflanzen viele verschiedene organische Verbindungen wie Methylsalicylat oder Ethylen synthetisieren können und diese für bestimmte Zwecke einsetzen wie etwa die Abwehr von Fressfeinden. Wir jedoch, so waren wir überzeugt, hatten eine viel grundlegendere Basis einer systematischen Kommunikation der Pflanzen entdeckt. Publikationen und Förderanträge wurden in Tag- und Nachtschichten geschrieben und eingereicht. Wir planten ein großes Projekt, um die Kommunikation zwischen den Pflanzen von Grund auf verstehen zu lernen. Während die Fachwelt aufhorchte und mit kritischen Kommentaren unsere Arbeiten verfolgte, ließen sich die Geldgeber Zeit. Wir vermuteten, dass nicht so sehr eine Prüfung der Förderungswürdigkeit stattfand, sondern mehr die Einschätzung der militärischen Nutzbarkeit. Aber ganz offensichtlich hielt man unsere Entdeckung diesbezüglich für uninteressant und uns für harmlose, liebenswerte Bewohner eines neuen Elfenbeinturms, denn nach einiger Zeit erhielten wir die Fördergelder bewilligt, allerdings in einem spürbar geringeren Maß als beantragt. Wir machten das Beste daraus. Unser Team erhielt einige Zimmer eines ehrwürdigen Institutsgebäudes zugewiesen und wurde ergänzt um Jan, einen Kryptologen, der praktische Erfahrung hatte im Knacken verschlüsselter Botschaften, sowie um Benno, einen Botaniker, dessen Fachgebiet die Biochemie der Bäume war. Schließlich verstärkte uns noch Gina, eine Sprachwissenschaftlerin, die sich einen Namen gemacht hatte auf dem Gebiet der generischen Sprachtheorie.
In unserer ersten Projektphase unternahmen wir Anstrengungen zu definieren, was notwendige Elemente einer universellen Pflanzenkommunikation seien müssten. Da war zu aller erst mal die Forderung nach einer Sensorik: über was würden sich Pflanzen unterhalten, wenn sie nicht einen Eindruck ihrer Umwelt hätten und der darin stattfindenden Veränderungen. Als nächstes gälte es zu klären, wie genau der Informationsaustausch erfolgte, also wie sendete der eine Baum Informationen und wie empfing sie der nächste Baum? Der wichtigste Teil jedoch war für uns die Frage, was machte eine Pflanze, zum Beispiel ein Baum mit dieser Information? Wie trifft sie Entscheidungen in Abhängigkeit der erhaltenen Neuigkeiten? Ganz offensichtlich muss sie hier die Möglichkeit haben, zwischen zwei oder mehreren Alternativen eine Entscheidung zu treffen und zwar im Sinne einer Optimierung ihrer Lebensverhältnisse. Und schließlich forderten wir für unser Kommunikationsmodell den Nachweis einer Speicherung von Information. All diese Fragestellungen würden den Evolutionsvorteil durch Kommunikation substanziell untermauern, so dachten wir.
Wir stürzten uns in die Arbeit, in dem wir so viele Gespräche der Bäume aufzeichneten wie möglich, und zwar unter möglichst vielen verschiedenen Umweltbedingungen. Wir registrierten die Signale zu allen Tages- und Nachtzeiten über Monate hinweg, die Frühling, Sommer und Herbst umspannten, später auch noch die Winterzeit. Wir fuhren mit dem orangefarbenen Laborbus des Instituts in noch schwelende Waldbrandgebiete, in vom Sturm geschädigte Bereiche, in Zonen verstärkter Trockenheit mit aufgesprungenen, rissigen Böden, aber auch in triste Nutzforste mit hohem Aufkommen an Baumfällarbeiten, da wir sicher sein konnten, hierüber würden sich die Bäume austauschen müssen. Unsere Planungen glichen wir in der stillen, stilvollen Institutsbibliothek ab mit Veröffentlichungen in fetten Wälzern, die über Baumkommunikation mittels Botenstoffen und über Pilzmycel referierten.
Mit dem Schatz an Daten machten sich unser Kryptologe und unsere Sprachwissenschaftlerin in ihren kleinen, mit Rechnern übervölkerten Büro an die Arbeit. Schnell wurde klar, dass gewisse Muster regelmäßig auftauchten, die Mehrzahl der Sequenzen jedoch sich nur selten und sporadisch oder auch gar nicht wiederholten. Der erste Ansatz war daher, die regelmäßigen Muster mit den dazu aufgezeichneten Umweltbedingungen zu korrelieren. Dafür verwendeten wir ein leistungsstarkes neuronales Netz, das wir mit den verfügbaren Daten trainierten. Bereits nach kurzer Zeit hatten wir einen ersten vagen Eindruck, dem wir aber aus professionellen Gründen noch misstrauten. So schienen Bäume, wenn sie am Morgen die ersten Sonnenstrahlen empfingen eine Art „Guten Morgen“ Grußformel zu versenden, die auch modifiziert ausfiel, wenn es sich um einen regnerischen Tag handelte. Verschiedene Bäume gaben Statusinformationen, wenn es ihnen nicht gut ging, etwa wegen Trockenheit oder Käferbefall. Die umstehenden Bäume reagierten darauf regelmäßig mit Kommentaren, deren Sinn wir jedoch vorerst nicht entziffern konnten. Umgekehrt zur morgendlichen Routine wurde auch zum Sonnenuntergang ein regelmäßiger Abendgruß verschickt. Die Sprachtheoretikerin extrahierte Sprachregeln, also eine Art Grammatik, und begann mit einer semantischen Zuordnung von Mustern zu Inhalten. Ziel war es hier, die Sprache auf einem elementaren Niveau zu verstehen, das es ermöglichen würde, auch solche Nachrichten zu entschlüsseln, die nicht direkt einer bestimmten Umweltsituation zuzuordnen waren, vergleichbar mit dem Lernen von Buchstaben, aus denen dann beliebige Worte und Sätze gebildet werden können. Schnell war klar, dass der Buchstabenvorrat der Bäume in die Milliarden gingen. Jede halbwegs stabile organische Verbindung, die in einer Pflanzenzelle synthetisiert werden kann, kam in unseren Messungen als Teil der Kommunikation vor.
In unseren Mittagspausen in der curryfarben gestrichenen Mensa des Instituts, einer alten Gründerzeitvilla mit weitläufigem Garten, kreisten unsere Gespräche um die Evolution von Sprache. Es war nur zu klar, dass Pflanzen in ihrer drei Milliarden Jahre alten Geschichte eine Sprache entwickelt haben mussten, da sie sich so viel besser in ihrer Umwelt zurechtfinden konnten. Natürlich waren Pflanzen ortsfest und ihre Zeit verlief viel langsamer als sich das unser menschlicher Geist vorstellen kann. Der Wechsel von Tag und Nacht erschien dem Ein- und Ausatmen ähnlich, der Wechsel der Jahreszeiten glich den Wach- und Ruhephasen. Trotzdem mussten Pflanzen im Fall von Bedrohungen augenblicklich reagieren. Bei Schnitzel und Kartoffelsalat erörterten wir im allgemeinen Lärm der klappernden Teller und Bestecke die Frage, ob Pflanzen, ob speziell Bäumen als Krone der Pflanzenwelt eine Intelligenz zugesprochen werden muss. Gina, unsere Sprachwissenschaftlerin, stocherte gedankenverloren in ihrem Essen, als sie ganz beiläufig meinte, nicht der einzelne Baum ist intelligent, aber der Wald. Wir verstummten und sahen sie an. Der Baum hat kein Gehirn, wiederholte sie, der Baum ist eine Gehirnzelle. Der Wald ist eine Ansammlung von pflanzlichen Neuronen, sowie unser menschliches Gehirn eine Ansammlung von tierischen Neuronen ist. Statt elektrische Impulse an Synapsen zu schicken, senden die pflanzlichen Neuronen Botenstoffe an die Nachbarneuronen aus. Die Reichweite der Erregung ist durch die Verdünnung der Stoffe in der Luft bestimmt. Das menschliche Gehirn besteht zwar aus Milliarden und Abermilliarden Neuronen, aber diese kennen nur zwei Zustände: an und aus, eins und null. Der Wald besteht nur aus vielleicht zehntausend Neuronen-Bäumen, aber diese können Milliarden von Zuständen haben, eben genau so viele, wie sie Substanzen senden und empfangen können. Uns stand kollektiv der Mund offen. Das war eine Hypothese, die uns heiß und kalt werden ließ. Der Wald war vielleicht ein intelligentes Wesen. Intelligenter vielleicht als ein Mensch, wenn man bedenkt wie lange er Zeit hatte zu lernen. Unsere Bemühungen, die Pflanzen zu verstehen war nichts geringeres als ein Kontakt zu Aliens, zu einer anderen intelligenten Spezies. Nun stocherte auch Jan, unser Kryptologe in seinem Essen und murmelte, die Vegetarier würden ihre Haltung in Kürze wohl überdenken müssen.
Wir vervielfachten unsere Anstrengungen, die Sprache der Bäume zu entschlüsseln. In Gewächshäusern auf dem Gelände des Instituts unternahmen wir unsere ersten Sprechversuche. Wir präparierten einige der identifizierten Signalmuster, in dem wir die zugehörigen Substanzen versprühten. Anfangs reagierten die Pflanzen unseren Messungen zu Folge mit einer Art Husten und einer offensichtlichen Ratlosigkeit. Wir fanden schnell heraus, dass unsere Dosierung auf eine amateurhafte Weise viel zu hoch war. Schon bald konnten wir mit Einstellen der richtigen Konzentrationen ein erstes Gespräch führen, denn wir erhielten eine Antwort. Es war zugegebenermaßen ein sehr triviales Gespräch, das über ein „Hallo, du!“ und ein „Selber hallo“ nicht hinauskam. Aber wir sahen dies als einen entscheidenden, wenn nicht sogar den entscheidendsten Wendepunkt an. Von nun an konnten wir nicht nur passiv durch das Mitschneiden der Gespräche lernen, sondern auch durch Dialoge, ja später sogar durch Fragen, die von den Pflanzen – wie sich herausstellte – gerne beantwortet wurden. Es wirkte ein wenig so, als seien die Gespräche eine willkommene Abwechslung in der sonst sehr eintönigen Gewächshausatmosphäre.
Nach wenigen Wochen hatten wir einen soliden Grundstock an Wortschatz erarbeitet. Man darf sich dies ein wenig so vorstellen wie die chinesische Sprache: für jeden Begriff gab es eine Art Schriftzeichen, das aus einer Substanz oder einer Substanzgruppe bestand. Wir beherrschten bei weitem nicht alle Schriftzeichen, lernten aber jeden Tag dazu und erweiterten unser Sprachverständnis stetig. Und mit dem erweiterten Sprachverständnis offenbarte sich uns ein ehrfürchtiger Einblick in eine faszinierende Kultur. So waren die Gespräche der Bäume keineswegs darauf beschränkt, alltägliche, praktische und notwendige Informationen auszutauschen. Wir fanden Beispiele von Ironie in den Gesprächen, Beispiele von Humor. Es war von jeher meine Überzeugung, dass Humor ein Zeichen von Selbstbewusstsein ist, nämlich von der Möglichkeit, aus der Szene herauszutreten und von außen daraufzublicken. Sätze wie: „na, toll“, die ein Missgeschick kommentierten, waren zu finden. Auch Metaphern wurden benutzt, etwa der Ausdruck „Gold des Lebens“ für die Sonne oder „Gurke“ für ein kleingewachsenes Exemplar in der Baumgruppe. Je weiter wir in die Sprache eindrangen, desto mehr Respekt nötigte sie uns ab. So fanden wir Gedichte:
Sonne im Herbstlaub,
goldener Staub,
malt Kringel ins pelzige Moos
Andere Dialoge drehten sich um Wettervorhersagen und um Zeitrechnung, also um die Periodizität der Helligkeitsschwankungen mit Fortschreiten des Jahres. Wir unterhielten uns mit mehreren aufgeschlossenen Bäumen im Garten des Instituts – es waren jedoch durchaus nicht alle Bäume erfreut über unsere Kontaktaufnahme. Manche lehnten jede Konversation ab, stritten sogar mit Nachbarn, die sich mit uns auf Gespräche einließen. In unseren Gesprächsrunden erzählten wir auf die neugierige Nachfrage unserer pflanzlichen Dialogpartner, wie sich das menschliche Leben anfühlt, die Möglichkeit, sich zu bewegen, andere Orte zu sehen, das Meer zum Beispiel oder die Erde aus der Vogelperspektive. Das überforderte zwar ihre Vorstellungskraft, sie hörten aber trotzdem gerne von diesen exotischen Themen und konnten gar nicht genug bekommen.
Etwa im zweiten Jahr unseres Projekts kam Annabel, eine junge Praktikantin in unser Team, die als Aufgabe erhielt, die alten aufgezeichneten Gespräche der früheren Projektphasen der Vollständigkeit halber systematisch zu erfassen, zu katalogisieren und zu übersetzen. Sie werkelte in einem fensterlosen Archivraum vor sich hin, kam offenbar gut voran und wir sahen sie nur zu unseren gemeinsamen Mittagspausen in der Mensa. Eines Tages wandte sie sich an uns mit der Bitte, einige Textpassagen zu überprüfen, da sie sich unsicher war, ob der Inhalt richtig übersetzt war, ihr käme es jedenfalls komisch vor. Wir sagten ihr Hilfe zu, verschoben den Termin jedoch, da wir mit den Bäumen in einer größeren Anstrengung über Pflanzenphysiologie, speziell die Rolle der Chloroplasten und die Photosynthese sprechen wollten, ein Gebiet, das Pflanzen naturgemäß nicht selbst erschließen konnten. Annabels Anfrage geriet jedoch darüber irgendwie in Vergessenheit. Als sie gegen Ende ihres sechsmonatigen Aufenthalts bei uns ihre Ergebnisse vorstellte, suchte sie die Passagen nochmals für uns heraus. Sie lauteten in etwa wie folgt:
Sie müssen weg. Es geht nicht anders. Oder:
Jeder, der geglaubt hat, dieses Problem löse sich von allein, ist eines Besseren belehrt worden. Sie vermehren sich schneller, als dass sie sich die Köpfe einschlagen. Dann wieder:
Wir hören von überall, dass sie unsere Freunde vernichten. Sie vergiften unsere Welt. Sie trocknen den Boden aus. Sie stören das Gleichgewicht.
Uns war nur zu klar, dass dies keine Übersetzungsfehler waren. Die Bäume sprachen über uns, über die Menschen, über die Menschheit. Damit nicht genug, sie waren gegen uns Menschen aufgebracht. Und drittens: sie hatten ja Recht. Großflächige Brandrodungen, extensive Bodennutzung, Verklappung von Giftmüll, Stickoxid- und Schwefelemisionen in die Luft, man brauchte nur die Zeitung an einem beliebigen Tag aufzuschlagen, um neue Argumente für ihre Einstellung zu finden. Wir waren ratlos. Vom Bauchgefühl stimmten wir alle mit der Analyse der Bäume überein. Vom Kopf her waren wir dagegen natürlich mehr als besorgt über mögliche Maßnahmen, die die Bäume gegen uns ergreifen könnten. Das Schlimmste dabei war, dass wir nicht einmal die politisch Verantwortlichen von der Gefahr würden überzeugen können: man würde uns als kranke Spinner abtun: was könnte so ein Baum oder meinetwegen eine Armee von Bäumen schon gegen uns ausrichten? Diese Frage hatten wir uns ebenfalls gestellt. Wir hatten jedoch keine Antwort darauf. Daher beschlossen wir, genau dieser möglichen Bedrohung auf den Grund zu gehen, indem wir die Bäume weiterhin belauschten, jedoch nicht wie bisher in einem offenen Dialog, sondern heimlich. Die erste Aufgabe, die wir uns stellten war herauszufinden: warum betreiben die Bäume einen solchen freundlichen, ja freundschaftlichen Dialog mit uns, ließen sich Dinge erklären und unsere Erfahrungen erzählen, wenn sie im Grunde eine feindselige Haltung uns gegenüber einnahmen? Es gab zwei mögliche Antworten: Entweder gab es mehrere Parteien, sprich Wald-Persönlichkeiten, die zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen waren. Oder aber sie spielten nur ein Rolle und täuschten die Freundlichkeit lediglich vor. Beide Möglichkeiten stimmten uns nicht zuversichtlicher. Dazu kam, dass die Bäume nun wussten, dass wir ihre Sprache im Großen und Ganzen verstehen konnten. Wir mussten als Konsequenz der Überlegungen ein möglichst großflächiges Netzwerk von Lauschposten in möglichst allen zugänglichen Wälder installieren, um eine Chance zu haben, hinter ihre Pläne zu kommen. Im Grunde hätte man diese Maßnahmen weltweit in Angriff nehmen müssen, aber das überstieg unsere Möglichkeiten bei weitem. Wir machten uns an die Arbeit, indem wir mehr und mehr Sensoren fertigten und diese schnellstmöglich strategisch positionierten. Unser Netzwerk war alles andere als lückenlos, aber wir hatten auch das Glück auf unserer Seite. In einem abgelegenen Wald erfuhren wir durch unseren Lauschposten:
Die Versuche sind erfolgversprechend. Die Varianten 233 und 259 sind erfolgreich getestet worden. Unsere Kontakte in die Menschenwelt berichten von Symptomen, wie wir sie geplant hatten. Wir wussten jetzt sicher, dass etwas vorging, dass die Pflanzenwelt tatsächlich etwas im Schilde führte.
Die Suche geht aber weiter. Wir haben immer noch die Optionen im Komplex III. Was mochten diese Varianten sein? Was die Komplexe, in denen sie offenbar suchten. Und: welche Symptome waren das, die die Bäume so zuversichtlich stimmten? Uns blieb nichts anderes übrig, als weiter zu spionieren. Die umfangreichen Dialoge mit den Bäumen, die Teil unseres Forschungsprogramms waren, wagten wir nicht einzustellen, um uns nicht zu verraten. Wir wollten jedoch in diesen Gesprächen gezielt falsche Informationen liefern, um weitere Gespräche über ihre Planung zu provozieren. Wir beschrieben ihnen alle möglichen erfundenen Krankheitssymptome, hielten aber Aussagen über wirkliche Gesundheitsprobleme der Menschen zurück. So gelang es uns mit großer Geduld und Ausdauer, weiter in ihre Planung einzudringen.
Wir erhalten unklare Rückmeldungen über unsere Versuche in Komplex II. Es gilt als sicher, dass die Mikroorganismen in ihren Verdauungstrakt eindringen. Erste Versuche zeigten ja bereits Auswirkungen auf die Psyche und einen erhöhten Zuckerkonsum. Uns ging ein Licht auf.
Die 309 hat bei Betroffenen eine stabile Sucht nach beiden Substanzgruppen ausgelöst. Ihr lebenswichtiges Kreislaufsystem wird irreversibel geschädigt, ebenso ihr Bewegungsapparat. Uns stand der Plan der Bäume nun klar vor Augen. Es ist bereits die häufigste Todesursache. Die Bäume manipulierten uns, unsere Psyche, unsere Körper mittels Pilzen in der Darmflora. Die Pilze ließen uns übermäßig essen oder auch Alkohol trinken oder beides. Wir bekamen durch die Pilzaktivitäten Appetit auf Zucker und Fett. Ein genialer Plan. Die Pilze konnte über Früchte und Rohkost leicht in die menschlichen Organismen eindringen und sich vermehren und waren dann nicht mehr zu erkennen, geschweige denn zu entfernen. Nur ihre Auswirkungen auf die Ernährungsgewohnheiten manifestierten sich. Natürlich gab es tausende von Ernährungstipps, wer kannte sie nicht? Nur hielt sich niemand daran, weil der Heißhunger auf knusperige Pizza, glücksverheißende Schokolade, krispe Chips, sahnige Eiscreme einfach größer war. Wir fanden mühelos heraus, dass mehr als ein Drittel der Todesfälle auf Kreislauferkranungen zurückzuführen war und diese im Wesentlichen auf falsche Ernährung und Bewegungsmangel, letzteres wiederum zurückzuführen auf Übergewicht. Einige wandten ein, Übergewicht oder Alkoholsucht habe es immer gegeben, das könne wohl nicht von einer Umprogrammierung der menschlichen Psyche durch Pilze in der Darmflora verursacht sein. Dagegen ergab eine Untersuchung recht schnell, dass in der Vergangenheit nur ein oder zwei Prozent der Bevölkerung übergewichtig waren, aktuell jedoch sechzig Prozent. Und während in der Historie sich nur ganz wenige betuchte Personen einen regelmäßigen Rausch überhaupt leisten konnten, so zeigten neuere Zahlen, dass inzwischen jeder Zehnte alkoholabhängig war. Als wir noch dabei waren, nach der genauen Familie und dem zutreffenden Stamm der eingesetzten Pilze zu fahnden und die Ergebnisse für eine Publikation zu sichten, alles mit dem Zweck, die Öffentlichkeit mit den nun verfügbaren, klaren Fakten zu informieren, erfuhren wir aus unserem Spionagenetzwerk über eine Geheimwaffe aus Komplex IV. Geheimwaffe deshalb, weil darüber offensichtlich nicht im Detail berichtet werden durfte. Die Arbeiten an dieser neuen Variante fanden an einem geheimen Ort statt, den wir nicht kannten. Wir trafen uns in zahllosen Besprechungen, in denen die bleistiftwirbelnde und knöchelreibende Nervosität wie elektrostatische Aufladung im Raum hing, wir wollten die Gefahr einer solchen Geheimwaffe abschätzen. Es war nur zu offensichtlich, dass es sich um einen weiteren Pilzstamm handeln würde. Ebenso lag auf der Hand, wie wir hemdsärmelig auf dem an die Wand projizierten Schema veranschaulichten, dass wir dieser Geheimwaffe auf genau demselben Weg exponiert würden, wie bei den bisherigen Varianten, und damit, dass wir einer solchen Gefahr praktisch hilflos ausgesetzt sein würden. Was weniger auf der Hand lag: welche Wirkungsweise würde der neuen Pilz nutzen, was würden die Auswirkungen auf einen menschlichen Organismus sein? Flipchartbögen mit Klebezetteln und großräumigen Strichen fetter Filzstifte tapezierten die Wände unseres Laborraums. Unsere Brainstormings führten uns zu der Vermutung, die bekannten psychoaktiven Wirkungen von Pilzen sollten genutzt werden, um zentrale Funktionen unseres Gehirns zu treffen.
Noch während unserer angestrengten Arbeiten begannen die Veränderungen. Als erstes fiel auf, dass der Autoverkehr irgendwie entspannter wurde. Man ließ sich gegenseitig einscheren, wo früher um jeden Zentimeter Straße regelrecht gekämpft wurde. Der Verkehr floss gleichförmig, wo sich früher Fahrzeuge in unentwirrbaren Staus verkeilten. Man stieg um auf andere Verkehrsmittel, um der überall vorherrschenden Parkplatznot auszuweichen. Wir nahmen all dies wahr und begrüßten die Veränderungen, sahen aber keine Verbindung zu unserem Forschungsgegenstand. Gleichzeitig, aber von vielen eher unbemerkt, stagnierten die Aktienkurse. Das Handelsvolumen brach auf einen Bruchteil seines früheren Wertes ein. Man kannte dies von urlaubsbedingten Flauten, allerdings war gerade überhaupt keine Feriensaison. Nach und nach änderte sich das Verhalten der Menschen in immer mehr Bereichen. Man arbeitete nur soviel, wie eben unbedingt nötig. Überstunden gab es keine mehr. Leitende Stellen wurden nicht besetzt, weil sich niemand darauf bewarb. Der politische Wahlkampf zwischen den Parteien, der früher niemals zu verstummen schien, verlief im Sand wie eine leicht gekräuselte Welle, auf der ein paar Schaumblasen zerplatzen und als ein weißer Rand die Stelle markierte, bis wohin sich das Wasser einmal vorgewagt hatte. Aber auch an uns bemerkten wir Veränderungen. Die Neugier auf die Kultur der Bäume, auf die Zusammenhänge der Pflanzensprache, auf die Geheimnisse um Komplex IV kam uns irgendwie abhanden. Wir trafen uns zu unregelmäßigen Zeiten im Labor, sichteten hier und da reflexartig die vorhandenen Ergebnisse der automatischen Auswertung, verfolgten unambitioniert die neusten Dialoge der Bäume. Aber niemand dachte mehr an eine zielgerichtete Arbeit oder gar daran, Maßnahmen gegen die Ausbreitung psychisch aktiver Pilze zu ergreifen. Benno, unserem Experten für Pflanzenbiochemie, gelang es tatsächlich durch das routinemäßige Screening von Feldfrüchten, den fraglichen Pilz zu identifizieren. Er dokumentierte seine Arbeit und ging dann mit seiner kleinen Tochter in den Park, um mit ihr das Radfahren zu üben. Wir verbrachten die Vormittage damit, bei ein oder auch zwei Tassen Kaffee die Zeitung zu lesen oder in sozialen Netzwerken zu surfen und je nach Wetter die Muster der Sonnenstrahlen auf dem Parkett oder die Bahnen der Regentropfen an der Scheibe auf uns wirken zu lassen. Wir lasen über rückläufigen Konsum, Stillstand bei der Exploration von Seltenen Erden im Amazonasgebiet, Verzögerung von Raumfahrtprojekten auf unbestimmte Zeit. Die Verpackungsindustrie verzichtete auf ihre bestellten Kontingente an Kunststoffen aller Art, was von Kommentatoren mit als Grund für den sinkenden Ölpreis angesehen wurde. Aufgeregte Modeschauen und mondäne Filmfestivals wurden mangels Besucherinteresse abgesagt. Aufmerksame Leser meinten, die Nachrichten von Auseinandersetzungen in den Krisengebieten sei enorm abgeebbt. Die Zahl der Arbeitslosen erreichte nie gekannte Werte, gleichzeitig meldeten die Statistikämter in ihren Verlautbarungen, das Volumen an Dienstleistungen in der Nachbarschaftshilfe steige auffallend stark. Die Finanzbehörden hatten auf Nachfrage eines Reporters kein Interesse, Fälle von Steuervermeidung zu verfolgen. Wenn man den Nachrichten glauben durfte, gingen die Steuereinnahmen zwar zurück, jedoch nicht so stark wie die Ausgaben des Staates. Die Kosten für Verteidigung zum Beispiel fielen drastisch, da parteiübergreifend niemand mehr einsah, wofür man bitte eine Armee benötigte. Medizinische Fachblätter berichteten über rückläufige Zahlen bei Schönheitsoperationen. Der Verband des Einzelhandels konnte Agenturmeldungen zu Folge beachtliche Erfolge im Kampf um Lebensmittelverschwendung verzeichnen. Benno setzte noch eine Kanne Kaffee auf.
Jan, der Einzige aus unserem Team, der schon immer ultraentspannt durchs Leben ging, dem Hörensagen nach einen beachtlichen Teil seines Gehalts in soziale Projekte investierte und meistens in einem ausgeleierten Pullover und abgetragenen Jeans im Labor erschien, war der Einzige, der sich über die Entwicklungen wunderte. Nicht, dass er ein Problem mit dem Verfall der Leistungsgesellschaft, mit dem Sieg der Low-Performer gehabt hätte, ganz im Gegenteil, die neue Gelassenheit erlebte er als wohltuende Wendung. Aber er ließ nicht locker mit der Frage: wenn unsere Gesellschaft vorher doch immer auf Kante genäht war, das Laken immer irgendwo zu kurz war, wenn wir immer in der Gefahr lebten, auf der Felge zu fahren, warum konnte jetzt fast alles einigermaßen zur Zufriedenheit aller funktionieren, wo doch plötzlich jeder nur das Mindestmaß des wirklich Notwendigen leistete? Er grub sich in diese Frage hinein, er schürfte Schicht um Schicht in die Tiefe. Wir beobachteten ihn während unserer morgendlichen Kaffeerunden durch die Trennfenster des Labors, wie er, einen Bleistift zwischen den Zähnen, vorgebeugt den Bildschirm studierte, seine langen, schwarzen Haare mit den Fingern nach hinten kämmte, aus einer womöglich Tage alten Kaffeetasse trank. Wir empfanden eine tiefe, warme Zuneigung zu ihm und seinen unermüdlichen Bemühungen, wenn wir sie uns auch überhaupt nicht im Ansatz erklären konnten. Nach einigen Tagen kam er, offenbar sichtlich befriedigt, mit einem Bündel Ausdrucken in der Hand zu uns in den Loungebereich und ließ uns mit sanfter Stimme wissen, er habe es nun geklärt, er habe herausgefunden, woher die Differenz – wie er sich ausrückte – resultierte. Wir sahen mit freundlichem Desinteresse von unserer Lektüre auf zu ihm, was er wohl als Aufforderung verstand, uns die Details zu erläutern. Er erzählte uns vom Verfall des Bruttosozialprodukts und von enormen Effizienzeinbußen, erwähnte das Ausbleiben von Investitionen und Wechselkursspekulationen, wir verstanden nicht wirklich wovon er sprach, wollten ihm aber das Gefühl von Anerkennung nicht verwehren und nickten interessiert. Dann kam er zum Punkt. Zumindest wenn wir ihn richtig verstanden. Vor unserem allgemeinen Kulturwandel hatten wir alle mehr gearbeitet, viel mehr gearbeitet, viel mehr erwirtschaftet, hatten aber nicht mehr Lebensqualität, oder nach Jans Theorie mehr „Erfüllung“ erzielt als nach den Veränderungen. Die Differenz der vormals überspannten und jetzt eher vernünftigen Wertschöpfung war früher zu einem erstaunlich großen Teil in die Taschen von einigen wenigen gewandert, vielleicht einem Prozent der Bevölkerung. Das Fehlen dieser Wertschöpfung traf aber die große Masse bei weitem nicht so hart wie jene Superreichen. Die hatten nun den Rückgang, einen für uns unvorstellbar großen Rückgang an erwirtschaftetem Gewinn zu verkraften. Wie es denen jetzt wohl ging? Saßen sie jetzt hinter alten Buchenalleen auf den Terrassen ihrer gut verborgenen Villen und rieben sich die Augen?
Ich gieße mir noch einen Kaffee ein und denke zurück an unser Labor, in dem für uns alles begann, rieche förmlich diesen so typischen Geruch nach organischen Lösungsmitteln, höre das Rauschen der Abzüge, das halb raunende Diskutieren der Kollegen neben dem Blubbern der Kaffeemaschine. Das ist nun zwei oder drei Jahre her. Zwei. Nein Drei. Egal.