Regen
von Paul Wlaschek (c) 2023
Vor den Fenstern hingen die weißlichen Fäden des Regens, leicht schräg, eine milchige Schraffur der Welt. Sie waren erst seit kurzem hier, doch in dieser Zeit regnete es ohne Unterlass. Für ein paar Tage konnte man das ja locker wegstecken, die Seele wurde nicht nass, es war bestenfalls unbequem, weil man sich gegen den Regen wappnen musste, regenfeste Schuhe, Regenmäntel, Hüte, Schirme waren nötig, wenn man den Container verließ. Es tropfte von der Kante des Daches in den Nacken, wenn man Pech hatte, man trat vielleicht mal unachtsam in eine der zahllosen Pfützen, die sich am Straßenrand gebildet hatten, aber, hey, das war doch wirklich keine Einschränkung des täglichen Lebens. Der Regen trommelte oben auf ein Dachfenster oder ein Stück Blech, es war kein Stakkato wie bei einem Platzregen mit fetten Tropfen, die das Ohr als tausend einzelne Schläge wahrnimmt. Der Fadenregen erzeugte vielmehr eine Art von Rauschen, gleichförmig und ohne erkennbare Höhen oder Tiefen, ohne ein An- oder Abschwellen. Die Gleichförmigkeit ließ das Geräusch nach kürzester Zeit zum unterbewussten Inventar der Szenerie werden. Wären sie gefragt worden, ob sie etwas hörten, so hätten sie verneint. Erst ein abruptes Ende des Regens hätte sich durch das plötzliche Fehlen des Geräusches in das Bewusstsein gedrängt.
Ein Ende des Regens war indes keinesfalls in Sicht. Als sie später mit den Einwohnern in Kontakt traten, erfuhren sie, dass es bereits seit Jahren ununterbrochen regnete. Und mit ununterbrochen meinte man nicht ein übellauniges „schon wieder“, sondern: ohne Pause, zu jedem Zeitpunkt. Als sie diese ersten Kontakte aufnahmen, waren sie bereits fast zwei Wochen vor Ort, und in dieser Zeit hatte es tatsächlich keine Veränderung gegeben: die Luft blieb durchzogen von den Schnüren eines allgegenwärtigen Niederschlags. Langsam nahmen auch die stabilsten Persönlichkeiten Schaden an ihrem seelischen Gleichgewicht. Es wurde nur das Nötigste gesprochen, sie arbeiteten stumm Hand in Hand, die mehr oder weniger geistreichen Witze über das Wetter und das Wasser waren alle gemacht und jeder Versuch einer Aufheiterung wurde nur mit blöden Blicken der Ausdruckslosigkeit quittiert. Das Team führte die geplanten Exkursionen durch ungeachtet der Wetterverhältnisse. Abseits befestigter Wege war der Boden hoffnungslos aufgeweicht und wurde bis auf das Ocker des darunterliegenden, schweren Lehms aufgepflügt. Wasser sammelte sich sofort in den groben Profilspuren der Reifen und die Wolken spiegelten sich in den entstandenen Seenlandschaften. Wenn man das Fahrzeug verließ, bahnte man sich den Weg durch die satt grüne, triefende Vegetation mit ihren großen Blättern, von denen sich bei jeder Berührungen Unmengen von Wasser ergoss. Die Stämme der Bäume waren schwarz von Feuchtigkeit. Es gab zunehmend Probleme mit der Elektrik und auch das Fahrzeug begann, ihnen Sorgen zu machen. Mit der Zeit wurde es zur Herausforderung, eine Komponente oder elektrische Verbindung zu trocknen, da die Nässe sich überall einnistete. Sie besuchten die Einwohnern, die in der näheren Umgebung lebten und die ihnen freundlich und aufgeschlossen gegenüberstanden. Betrat man die vormals für andere klimatische Bedingungen errichteten Wohngebäude, registrierte man die Auswirkungen von jahre- und jahrzehntelangem Regen. In den Eingangsbereichen gab es üblicherweise eine Art Garderobe, in der man sich der regennassen Kleidung entledigte. Es troff allerorten und roch stockig. Man betrat danach den klammen Wohnraum und ein Gefühl von Kühle setzte sich zwischen den Schultern fest. Trockenes Feuerholz zum Heizen gab es keines. Zwar wuchsen unzählige Bäume in den weiten, umliegenden Wäldern, jedoch war das Holz über und über mit Wasser vollgesoffen und niemand schaffte es, die gefällten Bäume und die daraus zerlegten Scheite so weit zu trocknen, dass sie nicht im Kamin mit einem stickigen, blaugrünen Flämmchen ankokelten, bevor der Versuch in einem beißenden Rauchfaden erstickte. Trotz der kühlen Temperaturen waren die Tapeten, die wellig an den Wänden hingen, von einem grünlichen Belag gesprenkelt. Die Polstermöbel, in die sie die gastfreundlichen Bewohner nötigten, waren feucht und hinterließen auf ihren Hosen dunkle Stellen. Die Tischplatte wurde mit einem Tuch abgewischt, war danach aber ebenso feucht wie zuvor. Während die Regentropfen Bahnen auf den Fensterscheiben zogen, erzählten die Einheimischen, dass das Klima vor langer Zeit gänzlich anderes gewesen war. Heitere Tage wechselten mit windigem oder bedecktem Wetter, Sonne mit Schauern, warme mit kalten Jahreszeiten. Dann aber hatte eine Wetterwalze eingesetzt, die unablässig feuchte, warme Luft von der Küste herantransportierte, und die enthaltene Feuchtigkeit regnete ohne Unterlass über dem ganzen Kontinent ab. Was diesen klimatischen Umschwung ausgelöst haben mochte, wusste niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Noch weniger konnte man sich erklären, warum diese Situation so beständig und stabil war und keine Aussicht auf eine Änderung erkennen ließ.
Mit fortschreitender Dauer ihres Aufenthaltes, es waren nun schon mehr als drei Wochen, wurde die Situation für das Expeditionsteam immer unerträglicher. Ihr Wohncontainer erwies sich als nicht mehr komplett wasserdicht unter der andauernden Beregnung, die Feuchtigkeit fand mit der Zeit immer neue Wege ins Innere. Sie schliefen mittlerweile auf feuchten Matratzen, zugedeckt von klammen Decken, sie zogen ihre feuchten Hosen und Hemden an und stiegen mit ausgewrungenen Socken in kwutschende Schuhe. Es war nicht möglich, sich an die allgegenwärtige Feuchte zu gewöhnen, im Gegenteil, der Abscheu vor immerwährender Nässe auf der Haut, das Tragen von nassen Klamotten über nassen Klamotten, das Hantieren mit triefender Ausrüstung zerrte an den Nerven. Die Haut zeigte erste Zeichen von geröteten, dann von juckenden Stellen. Das Gefühl, wie der dünne Regen draußen allmählich durch ihre Kleidung drang, raubte ihnen nach und nach die Widerstandskraft. Manchmal standen sie in dem überdachten Eingangsbereich vor der Containertür, die inzwischen bereits leicht schief in den Angeln hing und nicht mehr zuverlässig schloss, da die Wandisolierung an der Zarge aufgequollen war, und während die Perlenschnüre der Regentropfen vom Vordach in die Pfützen spulten, malten sie sich aus, was sie tun würden, wenn sie ins Trockene zurückkehrten. „Eine heiße Dusche und danach ein trockenes Handtuch !“ sagte man dann zum Beispiel. Worauf der andere vielleicht antwortete: „In einem trockenen Bett aufwachen und dann einen heißen Kaffee!“
Es war später nicht mehr klar, wer den ersten Funken Hoffnung anblies und zu einem, wenn auch kleinen Licht anfachte. Nach und nach schlossen sich alle an und diskutierten die Lage und die bestehenden Möglichkeiten so optimistisch, wie es eben ging in einer triefenden, von Dauerregen durchweichten Welt. Man ging die Liste der verfügbaren Komponenten und Ressourcen durch, suchte eine gemeinsame Priorisierung der Handlungsoptionen und einigte sich schließlich auf einen Plan: alle photovoltaischen Elemente ihrer Ausrüstung sollten zusammengeschlossen werden, um damit auf elektrolytischem Wege Wasserstoff und Sauerstoff zu gewinnen. Das würde einige Zeit dauern, aber so könnte man einen gewissen Vorrat beider Gase, natürlich getrennt voneinander, ansammeln. Die Einwohner hatten in den Gesprächen mehrfach erwähnt, dass sie Holz für Feuerungszwecke überreich bevorratet hatten, das aber zu feucht wäre zum Verbrennen. Dieses Holz spielte eine Hauptrolle im Plan. Bisher hatte man erfolglos versucht, es für Heizzwecke zu verbrennen. Der neue Plan bestand jedoch darin, mittels eines anfänglichen kleinen Feuers aus der Wasserstoffflamme immer mehr Scheite soweit zu trocknen, dass sie jeweils für die Trocknung der nächsten, größeren Charge verbrannt werden konnten. Der Plan würde gelingen, wenn jedes Holzscheit im Mittel mehr als ein weiteres Holzscheit trocknen würde. Wenn ein ausreichend großes Feuer erst einmal in Brand gesetzt war, musste man es nur noch stetig mit neuen, noch feuchten Scheiten in der Trocknungszone versorgen. Es gab auch bereits eine Idee, wo man diesen Plan am besten umsetzten könnte, nämlich in einer steinernen Scheune, die die Wärme gut speichern würde und die man mit einer Plane gegen eindringenden Regen sichern konnte. Alle Einwohner beteiligten sich an der Umsetzung, indem sie halfen, einen Elektrolysereaktor und eine Speichereinheit für die Gase zu bauen, oder einfach nur den Holzvorrat zum geplanten Feuerplatz zu transportieren. Eine trickreiche Geometrie wurde erdacht, wie die feuchten Scheite um und über das Feuer drapiert werden sollten, damit möglichst viel Wärme genutzt werden konnte und die Trocknungszone möglichst groß würde.
Dann kam der große Moment. Die Wasserstoffflamme entzündete die ersten Scheite, sie loderten im Strom des reinen Sauerstoffs lebhaft und entfalteten merkliche Hitze. Das feuchte Holz schäumte und zischte bösartig, als sei es überlistet und gegen seinen Willen in Brand gesetzt worden. Die Scheite in der Trocknungszone färbten sich bald dunkel. Nach und nach kam der Prozess wie geplant in Fahrt. Es wurden Schichten eingeteilt für die Überwachung und den Betrieb der Feuerstelle, eine sehr begehrte Tätigkeit, bei der die Kleidung und die Haut trocknete und der Körper sich bis in die Knochen wohlig aufwärmen ließ. Es dauerte nur wenige Tage, und in jedem Haus knasterte wieder der Kamin, man kochte, briet und backte wieder, wie die aromatischen Schwaden in der Luft bewiesen. Die Menschen begannen, ihre Häuser zu trocknen und zu reparieren. Eine emsige Geschäftigkeit setzte ein, die die Resignation verdrängte. Das Handwerk und der Handel begannen zu erblühen.
Die Expedition ging derweil dem Ende entgegen. Das Team packte die persönlichen Sachen, die Messgeräte, Proben und Daten in das Fahrzeug. Den Container mit der restlichen Ausrüstung ließen sie einfach, so durchnässt wie er war, zurück. Die Einwohner veranstalteten am letzten Abend ein rauschendes Abschiedsfest, auf dem sie nicht müde wurden, ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Am nächsten Morgen setzten die Expeditionsteilnehmer das schwere Fahrzeug in Betrieb und fuhren durch den strömenden Regen davon.
Zwei Jahre später reiste ein Reporter eines Wissenschaftskanals, der von der Expedition gelesen hatte, mit einem Kameramann in die Gegend, nachdem er die früheren Teammitglieder ausfindig gemacht und interviewt hatte. Man plante einen Bericht über die Region, über die Wetterphänomene und über die gesellschaftliche Entwicklung. Nach den Erzählungen stellten sich die Reisenden vor, in so etwas wie eine mittelalterliche Gesellschaft zu kommen, landwirtschaftlich geprägt, in der es eine florierende Holzindustrie gab, möglicherweise Eisengießerei und Schmiede, in überschaubarem Maß Kunst und Kultur. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie eine moderne Stadt vorfanden, die unter weiten, geschwungenen Dächern aus einem hell glänzenden Kunststoff gebaut war. Alle Gebäude befanden sich vor Regen geschützt unter dieser gewaltigen Zeltplane, die in regelmäßigen Abständen von hohen Masten aufgespannt wurde, und ein reges Treiben herrschte in den Straßen entlang der Läden mit bunten Auslagen. Der Reporter stellte Nachforschungen an und fand heraus, dass man schon bald nach jener Expedition einen neuen Kunststoff auf Ligninbasis entwickeln konnte, der aus einer Art Holzmaische gewonnen wurde, erst in kleinstem Maßstab, um Fugen und Öffnungen abzudichten, bald jedoch in langen Bahnen, die sich zu weiten Planen zusammenfügen ließen. Das Kunststoffdach über der Stadt war so konstruiert, dass die vielen Flächen den Regen zu einem einzigen Strom zusammenführte, der eine Turbine antrieb. Aus der Stadt heraus führten überdachte Wege zu paradiesischen Gärten unter weiten Kuppeln, in denen sich die Menschen auf Wiesen vergnügten und zwischen Bäumen und Blüten picknickten. Mit Stolz führte man den Reporter und seinen Kameramann herum und zeigte ihnen die Errungenschaften, die Kunststofffertigung, das summende Turbinenhaus und nicht zuletzt ein kleines Museum, in dem neben verschiedensten Bildern, Grafiken und Sammelobjekten auch der alte Elektrolysereaktor in einer Glasvitrine stand, mit dem man den ersten Funken entzündet hatte.
Der Bericht des Reporters erregte gewaltiges Aufsehen und führte zu einem Ansturm von Besuchern und zu einer ungeahnten Blüte der Region. Man darf vermuteten, dass die Geschichte den Menschen Mut machte und sie deshalb so gerne kamen und staunten. Hin und wieder trat jemand aus den geschützten Gassen hinaus in den Regen, dessen weißliche Fäden einen milchigen Schimmer über die dunkelgrüne Natur legte, vielleicht, um sich eine Vorstellung zu machen, wie es war, früher.