Spontane Atmung
Sonntagmorgen. Lena hüpft rhythmisch mit Synkopen die Treppe in den ersten Stock hinab und ruft „Lu, bist du zuhause? Die Determann macht eine Extra-Übungsstunde morgen in der sechsten. Gehört?“
Sie klopft an Paulas Zimmertür und als die nicht antwortet, öffnet Lena die Tür einen Spalt und schaut herein in das gedämpfte Licht des Zimmers. Ihre Zwillingsschwester liegt auf dem Bett, hat ihre Ohren verstöpselt und hört offenbar Musik. Als Lena eintritt, bemerkt Paula ihre Besucherin und zieht einen der Ohrhörer ab.
„Wollte mal schauen, wie es dir geht.“
Ein blasses Gesicht schaut sie an: „Geht so.“
„Du siehst Scheiße aus“, findet Lena und setzt sich auf die Bettkante.
„Oh, danke.“
„Ward ihr in der Laterne?“
„Hm. Unter anderem.“ Paula legt sich die Hand auf die Stirn, ihre Augen sind geschlossen.
Nach einer Pause fährt Lena fort: „Mama ist sauer wegen gestern, glaub ich.“
„Hm“, bekommt sie wieder zur Antwort und nach einer Weile: „Hat sie ja auch recht. Erst lasse ich in der Küche ein Chaos zurück und dann kotze ich noch das Taxi voll.“
Lena nimmt sie in den Arm: „Das wird schon wieder!“ Sie erinnert sich an den Grund ihres Besuchs: „Gehört mit der Determann?“
„Was ist mit der Determann?“
„Die macht vor der Prüfung noch eine Druckbetankung über generisch deutsche Fehler, Verlaufsform, Present Perfect, False Friends, so Sachen.“
„Hm.“ Paula hat offenbar andere Sorgen. Sie lassen wieder eine Pause zu.
„Was hörst du?“ Paula reicht Lena den freien Ohrstöpsel und rutscht im Bett zur Seite, Lena pflanzt sich den Stöpsel ein und die Zwillinge liegen nebeneinander und hören zusammen Musik.
Nach einer Weile beginnt Lena erneut das Gespräch: „Lu, ich habe Pezzi mal angehauen wegen Ritalin. Er sagt, das wäre kein Problem.“
Ihre Schwester öffnet die Augen und schaut an die Decke: „Meinst du, dass du damit deinen Schnitt für Medizin schaffst?“
Lena seufzt tief und zieht die Stirn kraus: „Ich brauche mindestens eine zwei in Mathe. Aber da glaube ich nicht dran.“ Sie ergänzt mehr zu sich selbst: „Das heißt dann warten. Krankenpflegeausbildung oder Rettungssanitäterin. Und noch zwei, drei Jahre hier bei Mama und Papa.“
Paula dreht sich auf die Seite und sieht Lena an: „Und die Schauspielschule? Euer Stück da in der Theater-AG – wie hieß das noch? Atmen in schweren Zeiten?“
„ Atmen in der Not“, korrigiert Lena.
„… das war doch echt ein Erfolg. Fährst du zu dieser Aufnahmeprüfung nach Zürich?“
Lena nickt: „In jedem Fall. Aber das hängt ja auch in der Luft. Hauptsache raus. Ach Lu, du hast es gut mit deiner Astrophysik. In sechs Monaten wohnst du schon in Heidelberg.“
Paula dreht sich wieder auf den Rücken. Nach einer Weile erzählt sie: „Serdar hat mich gefragt, ob ich mit ihm nach dem Abi nach Birecik fahre. Er hat dort Onkel und Tante und Cousins und Cousinen. Er war zuletzt als kleiner Junge dort und will sich die Gegend mal auf eigene Faust ansehen.“
„In die Türkei?!“
„Hm.“
„Ich meine, Türkei, das ist ja nicht alles Sandstrand und Beachbar. Das ist doch politisch … na ja, heikel. Dann die Erdbeben dort. Wo ist das genau?“
„Nicht weit von der syrischen Grenze. Am Euphrat.“
„Syrische Grenze?“, Lena richtet sich abrupt auf und wechselt hörbar die Alarmstufe, „Also weißt du …“
Betont sachlich bemerkt Paula: „Die Menschen dort leben ein ganz normales Leben. Die laufen nicht in schusssicheren Westen herum. Es gibt Trinkwasser und bei Bedarf Farbfernsehen.“
„Verschleiern sich die Frauen dort?“
Ein Kopfschütteln: „Serdars Familie sind Aleviten. Frauen sind gleichberechtigt. Religion ist Privatsache. Könnten sich die christlichen Fundamentalisten hier in Deutschland mal ein Scheibchen davon abschneiden. Wusstest du, dass achtzig Prozent der Verhafteten nach den Gezi-Protesten Aleviten waren?“
„Lenk nicht ab. Weiß Mama schon davon?“, durchschaut Lena ihre Schwester sofort.
Die stößt nur die Luft zwischen den geschlossenen Lippen aus. Damit ist alles gesagt. Sie hören weiter Musik, bis Paula fragt: „Und bei dir so?“
Lena setzt Paula den Zeigefinger auf die Brust: „Das bleibt aber unter uns! Jannik hat mich gedatet.“
„Jannik? Wer ist Jannik?“
„Er war in einer unserer Vorstellungen und da hat er mich gesehen. Nach der Vorstellung hat er mich angesprochen.“
„Aha…“ macht Paula langgezogen, „Und was treibt der so?“
„Er war früher mal auf unserer Schule und auch in der Theater-AG. Jetzt kommt er immer noch zu den Aufführungen.“
„Ja, ja, ja. Aber was macht er jetzt?“
„Er hat eine eigene Firma, IT, künstliche Intelligenz und so.“
Paula unterbricht sie: „Eine eigene Firma? Wie alt ist er denn?“
„Vierundzwanzig. Er hat IT studiert und schon während des Studiums seine Firma gegründet. Hatte wohl eine gute Idee. Da geht es um Optimierung komplexer Systeme, Bahnverkehr, Dienstpläne, Lagerlogistik, so was. Sie sind jetzt in der zweiten Funding-Runde.“
„Und wie ist er so?“ bohrt Paula weiter.
Lena hat ein seliges Leuchten im Gesicht, das den Raum erhellt: „Anders.“
„So genau wollte ich es gar nicht wissen.“
Lena weiß natürlich, dass sie ihrer Schwester mehr schuldig ist: „Wir könnten ja mal zusammen ausgehen, Serdar, du, ich und Jannik? Wenn du deinen Kater überwunden hast…“
Paula haut ihr freundlich in die Seite.
„Komm, wir beide gehen jetzt runter und du frühstückst ein bisschen was!“ schlägt Lena vor.
Als Antwort zieht sich Paula das Kissen über den Kopf.
Heute war Deutsch-Abi. Paula spielt mit ihrer Haarsträhne. Sie liegt auf dem Bett und hat die Beine senkrecht in die Luft gegen die Wand gelehnt. Mit kritischem Blick inspiziert sie ihre Haarspitzen. Gretchen und Frau Marthe sitzen auf der Bettkante und unterhalten sich über Faust und den alten Schwerdtlein. Paula hört ihnen eher beiläufig zu. „Die Rolle der Frau in Goethes Faust“, das war das kleinste Übel heute morgen. Stefan Zweig war noch im Rennen mit „Symbolik des Spiels in der Schachnovelle“ und irgendein romantisches Gedicht, das Paula nicht mal durchgelesen hat. Gedichte sind nicht Paulas Sache. Frau Marthe spricht in einer weisen, zurückhaltenden Art. Sie hat viel gelesen, zwar nur in Journalen, aber sie hat über ihren Tellerrand weit hinausgeschaut. Sie hat sich ihre Gedanken gemacht. Gretchen erzählt von Bärbelchen und ihrem Blümchen, das ja nun weg ist. Paula hat die verschiedenen Frauen in Fausts Umfeld sauber filetiert und deren soziale Aspekte auf der Anrichteplatte ihrer Erörterung geordnet ausgelegt und gewogen. Dann hat sie den Bogen gespannt zu Goethes mutmaßlicher Haltung, die nach Paulas Einschätzung alles andere als traditionell oder frauenfeindlich war. Allein die Tatsache, dass Gretchen in eine Tragödie gewickelt zum Schluss stirb, zeigt nach Paulas Einschätzung Goethes Absicht, auf das Schicksal von unverheirateten Müttern hinzuweisen. Am Ende hat sie noch ihre persönliche Einschätzung eingewoben, wie Goethe die Jetztzeit kommentieren würde, in der wieder die Völker weit hinten in der Türkei auf einander einschlagen und die modernen jungen Frauen in Deutschland Schminktipps aus den sozialen Netzwerken saugen, während ihre Altersgenossinnen in Eglib lernen, eine AK47 zusammenzubauen und IS-Kämpfern das Hirn wegzuschießen. Paula ist zufrieden mit ihrer Arbeit. Draußen vor der Zimmertür trappelt Lena in ihrer charakteristischen Weise die Treppe hinunter. Das Tempo des Trappelns ist verdächtig. Statt die Zimmertür zu öffnen und Lena hinterher zu rufen, turnt Paula ans Fenster und schaut hinunter auf die Straße. Dort steht ein Motorrad mit einem Haufen Pferdestärken und einem Prinz darauf, der statt einer Krone einen Integralhelm trägt. Lena erscheint nach wenigen Augenblicken, greift sich den zweiten, dargebotenen Helm, den sie gewandt aufsetzt, sie besteigt das edle Ross ihres Prinzen und die beiden fliegen los die Vorgärten entlang und dann rechts in Richtung Königsschloss.
Am späten Nachmittag klingelt es an der Haustür. Als Sonja öffnet, steht vor ihr ein Polizist in Uniform. Von der Klingel angelockt schaut Sunny, die kleine Promenadenmischung, mit Knopfaugen kritisch unter ihren Zotteln hervor und bellt dann kompromisslos. Paula kommt hinzu und sperrt Sunny in die Küche, während Sonja etwas unterkühlt fragt: „Ja bitte?“ Der Polizist stellt sich vor davor und versichert sich kurz, dass er an der richtigen Adresse ist: „Sie haben eine Tochter Lena?“ Sonja nickt, sie versteht die Frage, aber sie sucht nach einer Bedeutung. „Ihre Tochter hatte einen Unfall. Sie liegt in der chirurgischen Klinik im Kreiskrankenhaus.“ Die Wand, nach der Sonja greift, weicht vor ihr zurück. Der Boden neigt sich bedenklich. „Was?“ flüstert sie. Paula ist komplett bleich geworden. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat sie eine böse Ahnung. Ein plötzlicher, gewaltiger Antrieb ergreift Sonja. Ohne große Erklärungen schnappt sie ihre Jacke, ihre Handtasche und den Schlüsselbund und schiebt beim Hinausstürmen den Beamten zu Seite, der ratlos zusieht. Paula ruft ihr nach: „Warte! Nimm mich mit!“ Sie befreit Sunny aus der Küche, wirft die Haustür zu und, während sie zum Polizisten gewandt ruft: „Äh, danke, auf Wiedersehen!“, hastet sie Sonja hinterher und steigt in den bereits laufenden Wagen, der, noch bevor die Beifahrertür richtig geschlossen ist, rückwärts auf die Straße rollt und schon mit energischer Zielsicherheit in Richtung Stadt gelenkt wird. Von der Seite sieht Paula Sonja an, die hat einen versteinerten Zug um den Mund. Endlich taucht der alte Ziegelbau des Krankenhauses auf, links vor der Schranke geht es auf den immer überfüllten Parkplatz. Sonja macht sich gar nicht die Mühe, einen freien Stellplatz zu finden, sie lässt den Wagen einen Bordstein hinaufrollen und kommt schräg auf dem Gehweg zum Stehen. Als kleines Zugeständnis an den Rest der Welt schaltet sie die Warnblinkanlage ein. Paula eilt hinter Sonja her, die bereits im Eingangsbereich die Richtungsanzeiger studiert. Es riecht nach Reinigungsmittel, Kaffee und Krankenhausklo, Menschen gehen und stehen herum, jemand bringt die Post in einem Gitterwagen, am Kiosk werden hinter riesigen Zeitschriftenständern Blumen und Pralinen angeboten. Bunte Markierungen auf dem Boden sollen Ortsunkundigen Orientierung bieten, machen aber stattdessen einen verwirrenden Eindruck. Während Paula sich noch fragt, ob man nicht an der Information Erkundigungen einholen sollte, hat Sonja bereits den Weg festgelegt und fräst sich durch das Labyrinth von endlosen Gängen, Stationsbezeichnungen und weiten Treppenhäusern, denn ein Essenswagen blockiert den Aufzug. Sie weicht einer Schar junger Ärzte aus, frische Betten mit Schutzüberzug stehen im Weg. Chirurgische Klinik, Station 5, Unfallchirurgie: das Stationszimmer ist durch ein auffälliges Schild quer zum Flur markiert. Sonja klopft an die offene Tür und eine asiatisch aussehende Schwester erkundigt sich mit höflichem Lächeln nach dem Anliegen. Lena? Heute eingewiesen? Nein, nicht bei ihnen auf der Fünf. „Warten Sie kurz!“ Die Schwester hängt sich ans Telefon, spricht knapp, Sonja nicht aus den Augen lassend. „Ihre Tochter liegt auf der Intensivstation. Das ist hier im selben Trakt, die Treppe runter im ersten Stock. Bitte klingeln Sie dort an der Tür, Sie werden erwartet.“ Das Wort Intensivstation trifft Paula irgendwo in der Bauchgegend, Sonja dagegen scheint gefasst und auf eine fatalistische Art entschlossen, nur ihre Kiefermuskulatur mahlt erkennbar die Zahnreihen gegeneinander. Sie gehen den düsteren Stationsflur zurück zum breiten Treppenhaus und mit jedem Stockwerk wird das flaue Gefühl in Paulas Bauch stärker. Die Tür zur Intensivstation ist mit Milchglas gegen Einblicke gesichert. Eine Klingel mit Sprechanlage hängt rechts über dem Feuerlöscher. Nach einigen Momenten summt der Türöffner, ohne dass sich jemand nach ihnen und ihrem Anliegen erkundigt hätte. Auf der anderen Seite der Tür sieht es komplett anders aus als auf der Station oben. Ein weiter, hell erleuchteter Eingangsbereich wird hinten begrenzt durch einen Aufzug und durch eine doppelflügelige Milchgastür, die mit „OP Trakt“ überschrieben ist. Rechts befinden sich einige Krankenzimmer, die Türen mit riesigen Ziffern gekennzeichnet. Auf der linken Seite schaut man auf eine Glasfront, hinter der leicht erhöht eine Schwester in einem grünen, kurzärmeligen Kittel sitzt und nun von ihrem Papierkram aufblickt. Sie nickt Sonja und Paula kurz zu und ruft rückwärtsgewandt etwas in einem Nebenraum. Eine junge Frau, vielleicht dreißig, mit streng nach hinten geknoteten Haaren kommt zu ihnen heraus, sie trägt ebenfalls diese grüne OP-Kleidung, ihr Namensschild weist sie als Frau Dr. Rollofs aus. Mit tonloser Stimme stellt sie sich als diensthabende Stationsärztin vor und bittet Sonja, sich auszuweisen, aus Datenschutzgründen, das müsse leider sein, die Vorschriften. Sonja kramt in ihrer Handtasche und findet ihr Portemonnaie, aus dem sie aus einem Durcheinander von EC-Karte, Kreditkarte, Krankenversicherungskarte und Bonuskarten von drei Geschäften mit zitternden Fingern ihren Führerschein herauszieht, bemerkt, dass es nicht ihr Ausweis ist und will schon weitersuchen, als die Ärztin mit einem „Schon gut…“ abwinkt. Mit müden Augen bittet sie die Besucher in eins der angrenzenden Zimmer, die extra weite Türen haben. Dahinter liegt Lena in einem Krankenbett. Man erkennt sie nicht sofort, weil Lena nur mit einem Flügelhemd bekleidet an einer Beatmungsmaschine hängt, der Tubus in der Nase bedeckt das halbe Gesicht. Der rechte Arm ist mit der orangeroten Farbe des Desinfektionssprays eingefärbt, die Hände und die Fingernägel sind dunkel von Erde. Neben dem Bett stehen zwei Monitore für Herzfunktion und Atmung, Kabel führen von den Geräten unter das Flügelhemd. An einem Infusionsständer hängen drei Flaschen mit medizinischen Etiketten, die Schläuche führen über Apparate in einen Venenzugang am Schlüsselbein. Lena schläft. Ihre Augen sind geschlossen.
Paula schlägt ihre Hand vor den voll Entsetzen geöffneten Mund. Sie erstarrt einen Moment, stürzt dann zu Lena ans Bett und umarmt ihre Schwester. Erst als Sonja nähertritt und nach Lenas Hand greift, sieht sie den Verband auf der abgewandten Seite des Kopfes.
„Was … ich meine, wie…“, beginnt Sonja und kann offenbar die tausend Fragen in ihrem Kopf nicht in eine sinnvolle Reihenfolge bringen.
Die Ärztin beginnt ihren Bericht in einem unaufgeregten Ton: „Ihre Tochter hatte einen Motorradunfall. Sie zeigt alle Symptome eines offenen Schädel-Hirn-Traumas mit sich ausweitendem Hirnödem in Folge einer laterobasalen Schädelfraktur links. Die Wirbelsäule ist unverletzt, Extremitäten zeigen marginale Hautabschürfungen, Brust- und Bauchraum sind unauffällig. Die Patientin war nach dem Unfall zuerst noch ansprechbar, klagte über heftige Kopfschmerzen und Schwindel und musste sich übergeben, dann setzte die Bewusstlosigkeit ein. Sie wurde noch im Rettungswagen intubiert und beatmet, da sie einen Atemstillstand erlitt. Im CT und im MRT konnten wir ein raumforderndes subdurales Hämatom identifizieren, das die Ursache für die neurologischen Ausfälle ist. Wir haben zur Entlastung eine Hemikraniektomie links vorgenommen.“
Sonja hält noch immer Lenas Hand, ihr ist schwindelig von der Flut medizinischer Fachausdrücke, die keine ihrer Fragen beantwortet, sondern die Verwirrung ins Unerträgliche steigert: „Bitte, wie geht es meiner Tochter?“
Die Ärztin sieht Sonja direkt an: „MRT und EEG zeigen starke Schädigung der Hirnfunktion. Die Pupillen sind geweitet und ohne Reaktion.“
Sonja schüttelt unwirsch den Kopf: „Wird Lena wieder gesund?“
„Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Der Hirnstamm ist definitiv in Mitleidenschaft gezogen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Hirnschädigung Ihrer Tochter lebensbedrohlich ist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber eine solche Diagnose noch nicht möglich. Jede Aussage hierzu ist spekulativ und verfrüht. Wir nehmen in festgelegten Intervallen weitere EEG-Untersuchungen vor. Das wird sich jetzt über drei Tage hinziehen. In dieser Zeit ist noch alles möglich. Ich muss Sie bitten, Geduld zu haben, so schwer das jetzt auch für Sie ist.“ Mit einem routinierten Blick auf den Monitor und die Infusionen wendet sich die Ärztin nach einem Moment zum Gehen und lässt die Besucherinnen am Krankenbett zurück.
Paula streicht ihrer Schwester über die Stirn, hinter der es irgendwo eine Blutung gibt, soviel hat sie verstanden. Dass sie weint bemerkt Paula erst, als Tropfen auf das penibel weiße Bettlaken fallen, und sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann beginnt sie, in zärtlichen, leisen Worten mit Lena zu reden, indem sie ihr in das unverbundene Ohr flüstert. Sie erzählt ihr, wie sie mit Sonja sofort hergekommen ist, weil Lena einen Unfall hatte, aber nun sind sie ja bei ihr und es wird alles wieder gut. Sie erzählt von Sunny, die den Polizisten angebellt hat, und dass es jetzt draußen gerade dunkel wird und langsam die Zeit für das Abendessen kommt, das ja Lena heute Abend ausnahmsweise über ihre Infusionen erhält. Ihre Tränen laufen ihr immer wieder über die Wangen und sie wischt sie mit ungeduldiger Bewegung ihres Unterarmes fort.
Tommy, den Sonja noch auf der Autofahrt benachrichtigt hatte, eilt bleich und fahrig ins Krankenzimmer.
„Papa!“ entfährt es Paula erleichtert, als schöpfe sie allein durch die Anwesenheit ihres Vaters neue Hoffnung.
Der tritt zu Lena ans Bett, wie um sich zu überzeugen, dass das alles wahr ist. Er berührt Lenas Wange und sieht sie eine Weile an. Er umarmt Sonja und fragt: „Was ist denn nur geschehen?“ Paula berichtet den beiden mit belegter Stimme von Lenas Aufbruch mit Jannik auf seinem Motorrad. Tommy hört aufmerksam zu, während Sonja schluchzt. Dann zieht er mit einer Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen sein Handy aus der Hosentasche und wählt die Nummer der Polizei. Der wachhabende Beamte ist gar nicht verärgert, dass man ihn um diese Zeit stört, im Gegenteil, er scheint regelrecht erfreut über die Abwechslung. Ja, er habe einen Unfallbericht dort bei sich auf der Dienststelle, allerdings, das müsse Tommy verstehen, könne er nicht einfach telefonisch darüber Auskunft geben. Sie verabreden, Tommy solle morgen früh persönlich vorbeischauen und dann Einsicht nehmen. Nach einer unbestimmten Zeitdauer, vielleicht einer Viertelstunde, vielleicht auch einer Stunde, schaut ein Pfleger ins Krankenzimmer, um nach der Patientin zu schauen. Die drei Besucher, die nur hilflos am Krankenbett gestanden haben, lassen sich von ihm überzeugen, dass sie hier nichts weiter für Lena tun können. Der Nachtdienst wird Sonja sofort benachrichtigen, wenn sich etwas Neues ergibt, ja, auch jederzeit in der Nacht. So fahren sie schweren Herzens heim. Es ist bereits spät, als sie in ihren Betten liegen, todmüde und doch können sie lange nicht einschlafen.
Die Tür zur Polizeiwache ist früh am morgen noch verriegelt und öffnet sich erst nach einem Klingeln. Hinter einer Art Tresen sitzt nur ein Beamter an seinem Schreibtisch, der sich Tommys Ausweis zeigen lässt. Aus einem Ablagefach zieht er einige Blätter hervor, die durch ein blaues Dienstsiegel einen offiziellen Charakter ausstrahlen. Tommy fährt sich mit den Fingern durch die Haare, er liest leise und Paula versucht, von der Seite, einen Einblick zu bekommen. Ort und Uhrzeit sind aufgeführt, alle Namen, auch die von den Ersthelfern des Rettungswagens. Jannik hat offenbar nur Abschürfungen erlitten. Seiner Aussage nach ist das Motorrad auf der Kuppe in einer Linkskurve ins Rutschen geraten, auf die Seite gefallen und weiter geschlittert, wobei es sich plötzlich gedreht habe und Lena vom Sitz geschleudert wurde. Sie prallte mit dem Kopf gegen einen Baumstamm, trug aber ordnungsgemäß einen Helm. Es folgen dann Ergebnisse der Vermessungen von Spuren auf dem Asphalt und auf dem Seitenstreifen sowie Fotos der Unfallstelle. Paula spürt wieder diesen Krampf im Bauch. Wie von selbst erscheinen vor ihrem geistigen Auge Bilder ihrer Schwester, sie sieht Lena mit einem glücklichen Lächeln auf dem Soziussitz, das Haar schaut unter ihrem Helm heraus und flattert glänzend in der Sonne, deren Licht durch die jungen Blätter der Bäume blitzt. Lena erschrickt, als das Motorrad wegrutscht, versteht nicht was geschieht, alles dreht sich um sie, bis sie nach einem gewaltigen Schlag gegen den Kopf und einem hässlichen Geräusch liegen bleibt. Paula sieht vor ihrem geistigen Auge, wie Jannik sich aufrappelt und mit Mühe unter dem Motorrad hervorkriecht, um ihrer Schwester aufzuhelfen, die ganz benommen ist, aber ansprechbar. Er hilft ihr aus dem Helm und Lena muss sich übergeben, bevor sie ohnmächtig wird. Jannik wählt den Notruf. Mit diesen Bilder wächst in Paula der quälende Wunsch nach einer anderen Wirklichkeit, in der sie Lena zum Abschied auf der Treppe etwas nachgerufen hätte, das sie hätte für einige Momente zögern lassen, eine Verzögerung, die eine Ampel noch auf Rot springen lassen könnte oder eine andere Windböe bedeutet hätte oder eine Wolke vor der blendenden Sonne oder … In dieser anderen Realität würde sich Lena genau jetzt wieder mal Klamotten von Paula ausleihen und sie einmal mehr in ihrem Zimmer herumliegen lassen. Tommy reißt sie aus ihren Gedanken: „Komm, wir fahren ins Krankenhaus!“
Die Ärztin macht heute ein ernstes Gesicht, auf bedrohliche Art anders als der müde, sachliche Blick von gestern. Das EEG zeigte keine Hirnaktivität mehr. Es werden noch weitere EEGs folgen, man müsse sich jedoch mit dem Gedanken vertraut machen, Lena könne hirntot sein.
Sonja schüttelt abrupt heftig den Kopf: „Ach was, ich sehe doch, dass sie lebt, dass sie atmet, es geht ihr gut!“ Paula beugt sich herab zu Lena und lehnt ihren Kopf gegen den ihrer Schwester. Tommy, der versteht, was die Ärztin sagt, nimmt Sonja in den Arm, aber die macht sich frei, tritt an Lenas Bett und ergreift ihre Hand: „Ich sehe doch, dass es ihr gut geht. Sie schläft.“
Die Ärztin lässt etwas Zeit verstreichen, bevor sie erklärt: „Ihre Tochter wird künstlich beatmet. Sie atmet nicht selbständig. Alle Körperfunktionen, speziell die Herztätigkeit sind vorhanden. Die Hirnaktivitäten jedoch sind erloschen.“
„Das wissen Sie doch gar nicht!“ empört sich Sonja.
„Es ist mein Job, das zu wissen“, entgegnet die Ärztin leise und trotzdem sehr bestimmt. „Noch können wir keine abschließende Aussage machen, nur: die Chancen auf eine spontane Verbesserung werden erfahrungsgemäß mit fortschreitender Dauer immer geringer.“ Trotzig wendet sich Sonja wieder Lena zu und streicht ihr über das Haar, über den Arm. Paula krümmt sich ein wenig, da ihre Bauchschmerzen sie einzwängen wie ein Schraubstock.
„Der Oberarzt möchte gerne mit Ihnen sprechen, wenn Sie einen Moment Zeit haben?“, tastet sich die Ärztin im Gespräch weiter. Das Schweigen nimmt sie als Einverständnis. Sie kehrt in den Glaskasten zurück, die grüne, zu weite OP-Kleidung flattert, die Gummisohlen ihrer Schuhe zwitschern auf dem glatten Boden, dann hört man sie dort telefonieren. Nach einiger Zeit zischt neben dem Aufzug die automatische Flügeltür auf und ein braungebrannter, großer Mann im offenen weißen Kittel und mit grauen Schläfen segelt herein. Er stellt sich als Oberarzt der Chirurgie vor. Frau Doktor Rollofs habe sie ja bereits über die Situation aufgeklärt, und er wisse, es sei sehr schwer, aber er müsse das fragen: da Lena keinen Organspendeausweis besitze, ob alternativ Sonja und Tommy als Eltern im Falle eines diagnostizierten Hirntods einer Organspende zustimmen. Es sei ihm – nochmal wiederholt – klar, was er ihnen zumute. Nur müsse er auch rechtzeitig umfangreiche Vorbereitungen treffen, wenn eine Organspende in Frage käme. Sonja steht immer noch unverändert Lena zugewandt und streichelt ihr den Arm. Nichts deutet darauf hin, dass sie die Worte des Oberarztes gehört oder verstanden hätte. Tommy starrt den Oberarzt mit offenem Mund an. Der Arzt lässt die Frage im Raum stehen, er scheint nicht bereit, sie zurückzunehmen, irgendwie ungeschehen zu machen. Er hält Tommys Blick stand und beschließt das einseitige Gespräch: „Ich muss Sie das fragen. Bitte denken Sie darüber nach. Nehmen Sie sich Zeit. Bitte bedenken Sie bei Ihrer Entscheidung ganz besonders, was Ihre Tochter gewollt haben würde.“ Mit den Worten wendet er sich ab und verschwindet durch die automatische Tür in den Eingeweiden des OP-Trakts. Paula eilt hinaus in das Foyer, orientiert sich panisch, verschwindet in der Damentoilette und übergibt sich.
Eine nie dagewesene Stille füllt das Haus an. Geräusche, die man macht, werden durch diese Stille ins Monströse verstärkt, und so versucht man, alles so leise wie möglich zu tun. Tommy öffnet lautlos die Schlafzimmertür. Sonja liegt mit offenen Augen im Bett und rührt sich nicht. Sie macht nicht das leiseste Geräusch. Schon seit heute Morgen liegt sie so da. Gestern Abend hatten Tommy und Sonja das Gespräch im Krankenhaus. Der Oberarzt war da und noch ein Mitarbeiter des Krankenhauses, der aussah, wie ein Fisch, mit dicken Lippen und hervortretenden Augen. Man hatte sie in einen Besprechungsraum gebeten, der bis auf einen weißen Tisch, sechs weiße Stühle und ein weißes Sichtgerät für Röntgenbilder leer und steril war. Der Oberarzt erklärte ihnen, wie eine Organspende abläuft. Lenas Körper, der nicht mehr die Persönlichkeit ihrer Tochter enthielt, würde wie bei einem normalen chirurgischen Eingriff geöffnet. Man hatte aufgrund der Voruntersuchungen zwei mögliche Empfänger für die Nieren identifiziert. Nach der Entnahme der Organe würde der Körper wieder verschlossen. Lenas Körper würde anschließend aussehen, wie nach einer Bauchoperation. Nach der Organentnahme würde die Beatmungsmaschine abgestellt. Nicht selten passiere es, dass der Körper des Patienten zu diesem Zeitpunkt mit einer spontanen Atmung beginne, die noch für einige Zeit anhalte. Anschließend setze auch für den Körper der Tod ein. Sonja saß auf der Vorderkante ihres Stuhls und knetete in ihrem Schoß ihre Hände. Sie blickte auf die glatte Tischplatte wie in eine Schneewüste. „Aber Lena könnte doch wieder aufwachen. So etwas hat es doch schon gegeben!“, sagte sie leise.
„Wir haben seit zweiundsiebzig Stunden keine Hirnaktivität mehr gemessen“, versicherte der Oberarzt ein weiteres Mal in einer ruhigen, geduldigen Art, „Wir gehen sehr sorgfältig und gewissenhaft vor, bitte glauben Sie mir das. Leider, so muss man es sagen, haben wir über die Jahre einige Erfahrungen mit Hirnverletzungen gesammelt. Wir schließen aus, dass Lenas Gehirn jemals wieder Aktivität zeigt. Lena ist hirntot.“
Sonja hatte da bereits seit zwei Tagen Beruhigungsmittel genommen, sie erschien wie in ein dickes Bündel Watte gepackt. Ihre Stimme war kraftlos, ihre Bewegungen waren sparsam und teigig. Dennoch rebellierte sie gegen den Gedanken, ihre Tochter aufzugeben: „Ich kann doch nicht das Todesurteil über mein eigenes Kind sprechen!“
„Ich muss Sie darauf hinweisen,“ ergänzte der Oberarzt, „dass wir die Beatmungsmaschine in jedem Fall abstellen werden. Hier geht es lediglich darum, ob Sie einer Organspende Ihrer Tochter zustimmen. Auf diesem Weg kann Lena zwei Menschen das Leben retten. Ich bin überzeugt, Ihre Tochter würde einer Spende zustimmen.“
Tommy nickte dem Arzt zu. Er hatte lange mit Paula gesprochen, wie sie sich entscheiden sollen. Seine Tochter hatte auf eine bedrückend illusionslose Weise analysiert, was Lena denken, sagen, tun würde. Seit neunzehn Jahren waren die beiden zwei Seiten einer Münze gewesen. Anfangs, in ihrer Kinderzeit, erschienen die Zwillinge fast wie verschiedene Erscheinungen ein und derselben Person. Als sie fünf oder sechs Jahre alt waren, hatten Lena und Paula eine eigene Sprache erfunden, die nur sie beide verstanden und die sie in bestimmten Situationen benutzten, um die Erwachsenen auszuschließen. Später dann, in der Pubertät, bemühten sie sich um Unterscheidung, um nicht mehr als Teil einer Einheit wahrgenommen zu werden. Trotzdem blieben sie sich immer eng verbunden.
Paula war überzeugt, Lena würde einer Organspende zustimmen, wenn man sie nur fragen könnte. Sie selbst, Paula, würde in jedem Fall wollen, dass sie mit ihren Organen anderen Menschen das Leben rettet, wenn sie in diese Situation geraten würde, wenn sie jetzt bewegungslos im Bett auf der Intensivstation im ersten Stock des Kreiskrankenhaus läge, wo es keinen Tag und keine Nacht gibt, kein Morgen, gar keine Zeit mehr. Tommy hatte lange schweigend zugehört. Dann war er seufzend und wie in Zeitlupe aufgestanden, er wirkte nicht erleichtert, sondern im Gegenteil wie mit Bleigewichten beschwert. Aber er wusste offenbar nun, was er tun musste. Mit Sonja konnte man nicht über das Problem reden. Als Tommy ihr seinen Entschluss mitteilte, schlug sie ihm mit der Faust gegen die Brust, dass ihm die Luft wegblieb, und schrie ihn an: „Du hast kein Recht dazu! Dazu hast du gar nicht das Recht!“ Schließlich hatte sich Sonja mit steinerner Miene doch bereit erklärt, an diesem furchtbaren Gespräch teilzunehmen, einerseits vielleicht, weil die Beruhigungsmittel ihren Schmerz betäubten, andererseits aber wohl auch, um Tommy nicht das Feld zu überlassen. Wenn sie eine Chance auf ihre Lena haben wollte, dann musste sie mitfahren und mit diesem Arzt reden.
Jetzt saß Sonja da und krampfte ihre weißen Hände zusammen und man sah den Schmerz in ihrem Gesicht eingeschnitten wie ein Holzschnitt. Wir stellen die Beatmungsmaschine in jedem Fall ab, hatte der Oberarzt gesagt. Wir töten auch den Rest ihrer Tochter. Wir entziehen ihr die Atemluft durch dieses verdammte Gerät. Sonja sah in die Gesichter am Tisch, in das des Oberarztes, der einen ruhigen, aber entschlossenen Eindruck machte. Der Fisch saß nur stumm da und glotzte. Schließlich sah sie Tommy an. „Ich möchte mit meinem Mann alleine sprechen, bitte“, flüsterte sie.
Der Arzt versicherte, sie könne sich Zeit nehmen, und die beiden Krankenhausangestellten verließen den Raum.
Sonja flüsterte: „Tommy, mach du das, ich kann das nicht. Bitte, tu das Beste für unsere kleine Lena. Ich möchte, dass sie …“ Dann brach sie ab, legte langsam den Kopf in ihre Arme auf der Tischplatte und schluchzte haltlos und jämmerlich, es schüttelte ihre Schultern heftig, die Hände krampften sich wieder zu Fäusten, und ihr Schmerz wollte und wollte nicht enden, so schien es. Tommy hatte sich enger neben sie gesetzt und sie an sich gedrückt und spürte das rhythmische, atemlose Schluchzen auch noch, als kein Laut mehr zu hören war. Erst nach einer langen Weile war die ganze Kraft aus Sonja gewichen, auch die Kraft, die ihre Seele gefasst und mit ihrem festen Griff gebeutelt hatte. Tommy bemerkte, dass er ebenfalls tränennass war. Er ging zur Tür, um den Arzt ins Zimmer zu bitten. Der erschien mit dem Fisch und einem kleinen Stapel Papieren und er erweckte den Eindruck, dass er über den Ausgang des Gesprächs im Vorhinein Bescheid wusste. Sonja hatte sich aufgerichtet und sah verwüstet aus. Ihre Augen waren rot gerändert, das Gesicht verheult, die verlaufene Wimperntusche nur achtlos abgewischt, wie es jemand tut, der keinen Spiegel zur Verfügung hat. Sonjas Gestalt wirkte in sich zusammengefallen, schmal und an den hervortretenden Schlüsselbeinen aufgehängt, wie an einem Kleiderbügel. Als alle wieder auf ihren Plätzen am Tisch saßen und Tommy kurz ihr Einverständnis signalisiert hatte, erklärte der Oberarzt, der mit der Situation auf eine schreckliche Weise vertraut schien, in juristisch einwandfreien Worten, welche Dokumente die Eltern unterschreiben müssten. Er legte die Papiere nach seiner jeweiligen Erläuterung vor Tommy auf den Tisch, der sie versuchte zu lesen, aber nach wenigen Zeilen aufgab, weil er das Gemisch aus medizinischen Fachbegriffen und amtlichen Formulierungen in seinem Kopf nicht entwirren konnte und weil er auch überhaupt keinen Sinn darin sah, die Bedeutung zu verstehen. Was sollte er gegen die darin festgehaltenen Punkte einwenden? Er nahm den dargebotenen Kugelschreiber, der offenbar ein Werbegeschenk eines Pharmaherstellers war, und unterschrieb an den vorgesehenen Stellen. Danach schob er den kleinen Stapel an Sonja weiter, die eine geraume Weile einfach nur dasaß und auf das bedruckte Papier blickte, schließlich nahm sie wie in Trance ebenfalls den Stift und unterschrieb. Sie wirkte ausgebrannt wie eine abgeworfene Raketenstufe, die wertlos geworden zur Erde fällt und verglüht. Der Arzt wartete noch pietätvoll eine unendliche Minute, bevor er sich bedankte und einen Termin für eine Verabschiedung am folgenden Tag vorschlug, er verabredete sich dafür mit Tommy und nahm dann die unterzeichneten Papier so dezent wie möglich an sich.
„Schatz, wir müssen bald los“, spricht Tommy seine Frau behutsam an, aber die rührt sich nicht, liegt mit offenen Augen in ihrem Bett und schaut ausdruckslos vor sich hin. „Soll ich dir beim Anziehen helfen?“ Keine Antwort. „Wir müssen uns von Lena verabschieden.“ Sonjas Mundwinkel zuckt leicht, als sie Lenas Namen hört. „Die haben einen engen Zeitplan da im Krankenhaus.“ Sonja scheint nicht mal zu atmen, die Bettdecke über ihrer Brust bewegt sich nicht. „Die Transplantationen sind geplant.“ Als Sonja sich nicht rührt, nimmt Tommy einige Kleidungsstücke aus Sonjas Schrank, setzt den widerstandslosen Körper seiner Frau auf die Bettkante und beginnt mühsam, sie anzuziehen. Mit der Zeit hilft Sonja reflexartig mit, lässt sich einen Mantel umlegen und steigt zu Paula ins Auto.
Im Krankenhaus ist alles auf eine deprimierende Weise unverändert, als habe sich die Welt nicht auf den Kopf gestellt. Sie klingeln an der Stationstür, das Summen des Öffners ertönt, eine Schwester und die Ärztin beugen sich gerade im Glaskasten über eine Patientenakte, das Ewige Licht der Deckenleuchten verbreitet eine routinierte Alltagsatmosphäre. Die Gruppe der Besucher begibt sich in Lenas Krankenzimmer. Durch die offene Tür kann man die drei beklommen um das weiße Bett stehen sehen. Als erstes flüstert Paula ihrer Schwester ins Ohr, was alle in der Stille mithören: „Malemm haga norsa, malemm. Taja sina morron. Malemm.“ Ihre Tränen fallen auf den weißen Kissenbezug. Tommy tritt ans Bett, auf dem Paula immer noch halb liegt. Er nimmt Lenas kraftlose Hand und sieht ihr lange in das intubierte Gesicht, als wolle er ein Bild für die Ewigkeit bewahren. Dann küsst er Lena auf die Stirn, dabei fällt ihm wieder der saubere, seitliche Verband am Kopf auf. Als Sonja an das Bett tritt, haben sich die beiden anderen hinter ihr zurückgezogen. Sonja legt sich neben Lena ins Bett, nimmt ihren Kopf in ihre Hände und hält eine stille Zwiesprache. Als nach geraumer Zeit neben der Tür ein Pfleger zu hören ist, der auch einen kurzen Moment den Kopf durch die Türöffnung steckt, tritt Tommy neben Sonja und fasst sie am Arm, aber Sonja ist plötzlich voll widerspenstiger, elastischer Kraft. Tommy löst Sonjas Hände von Lenas Gesicht, zieht seine Frau an den Händen von ihrer Tochter fort, zerrt sie fast vom Bett herunter und nimmt sie so fest in den Arm, dass sie sich nicht mehr rühren kann. Der Pfleger und eine Schwester stöpseln die Kabel von den Monitoren, legen die Infusionsflasche auf das Bett, lösen die Feststellbremse des Bettes und schieben Bett und Beatmungsgerät hinaus in den weiten Vorraum gefolgt von den Besuchern. Wie auf ein geheimes Kommando schwingen die beiden Hälften der automatische Türe zum OP-Trakt auf, das Bett mit Lena fährt hindurch, mit einem zischenden Geräusch schließen sich die beiden Milchglasflügel wieder. Die Besucher, die nun plötzlich keine Besucher mehr sind, stehen noch eine Weile da und blicken ungläubig auf die Tür, durch die Lena verschwunden ist. Dann gehen sie stumm in die andere Richtung, nehmen den Gruß der Ärztin aus dem Glaskasten gar nicht wahr, verlassen wie betäubt die Intensivstation und schleichen zum Aufzug, schleichen zum Auto, schleichen heim. Als Sonja sich so, wie sie ist, mit ihre Kleidung ins Bett legt, wird im OP gerade Lenas Bauchhöhle geöffnet. Während Paula verschwitzt entlang der Felder in Richtung Wald rennt, werden nacheinander die beiden Nieren freigelegt, entnommen und behutsam in zwei Kühlbehälter gelegt. Ein Bote wartet bereits. Am Nachmittag, als Tommy eine große Kanne starken Kaffees aufsetzt, sieht zwanzig Kilometer weiter der Oberarzt auf die große Uhr an der Wand des OPs und nickt dem Anästhesisten zu, der mit einem zielsicheren Griff die Beatmungsmaschine abstellt.
Lenas Körper beginnt, wieder selbständig zu atmen. Er atmet noch sieben Minuten, dann zeigt der Monitor eine Nulllinie und gibt einen durchdringenden Warnton von sich. Der Oberarzt blickt erneut auf die Wanduhr: „Todeszeitpunkt fünfzehn Uhr vierundzwanzig. Chirurgische Pinzette, Nadel, zweier Faden!“ „Chirurgische, Nadel, zweier Faden“, echot die OP Schwester.
Tommy gießt sich einen Becher Kaffee ein und geht von der Küche durch die Stille des Hauses hinaus auf die Veranda. Sunny kommt aus ihrem Nest und legt sich Tommy auf die Füße. Hier draußen singen die Vögel.