Rollfeldromantik
Jens Kramm ist Regional Sales Director in der Rolle eines Head of Sales Europe, er vertreibt Softwarelösungen für die Pharmaindustrie. Jens fliegt nach Hamburg zu einem potentiellen Kunden. Er hat den Termin für das Gespräch auf den frühen Mittag gelegt, damit er nicht so früh los muss. Kernzeitflieger nennen ihn manche Kollegen, die schon mal um drei Uhr nachts aufstehen, damit sie ihren Flieger um 6:30 h erwischen. Jens ist Vielflieger, ein echter Profi sozusagen. Er arbeitet beharrlich an seinem inzwischen schon stattlichen Meilenkonto. Fliegen ist für ihn das absolute Statussymbol. Er liebt die Atmosphäre im Terminal, am Gate, das Treiben an der Rampe, auf dem Vorfeld, auf dem Rollfeld. Seit wieder geflogen werden darf nach der Pandemie, gibt es seitens der Firma strengere Vorgaben für die Genehmigung von Flügen. Aber, hey, Sales ist der Lebensnerv des Geschäfts. Man muss den Kunden persönlich in die Augen sehen, den Charme spielen lassen können. Zumindest hat das den Vertriebschef, den Sterzer überzeugen können, dass ein Video-Call unangemessen ist. (Obwohl das während der Pandemie auch funktionierte). Der Sterzer ist neu und neue Besen kehren gut und der neue Vertriebschef beweist jedem, dass er gut kehrt. Mach deine Zahlen, sagte er zu Jens, dann ist alles gut. Den Krippner, Naher Osten, hat er zur Sau gemacht. Krippner hätte gern selbst die ausgeschriebene Stelle als Vertriebschef bekommen und lässt Sterzer in Meetings immer wieder mal spüren, dass er eigentlich der bessere Kandidat gewesen wäre. Jetzt hat Sterzer ihm eine Versetzung für zwei Jahre nach Thailand reingewürgt, Stichwort Weiterentwicklung auf eine verantwortungsvollere Position. Keine Kleinigkeit, zwei Jahre Thailand, mit Frau und zwei Schulkindern und jetzt das Haus. Jedenfalls er, Jens, kommt nun gemessenen Schrittes zum Gate, nachdem er dreimal zunehmend unfreundlicher über die Lautsprecher ausgerufen wurde. Nicht, dass er Schwierigkeiten bei der Anfahrt gehabt hätte. Er ist wie gesagt Profi und kennt genau sein Timing. Der Flieger wartet schon noch fünf Minuten extra. Und Jens genießt, wenn er als letzter durch die Kabine zu seinem Sitz geht, die Blicke mit einer Mischung aus Genervtheit und Bewunderung für den offenbar wichtigen und überaus coolen Geschäftsmann. Jens dengelt seinen voluminösen Handgepäckkoffer in ein freies Gepäckfach. Die Maschine ist nicht voll besetzt um diese Zeit, so dass noch Stauraum verfügbar ist. Da muss er nicht der Saftschubse sein Gepäck in die Hand drücken mit der unmissverständlichen Ansage, sie möge das bitte mal für ihn versorgen. Jens hat schon vor zwei Wochen den Platz 9C reserviert, vorne am Gang, damit er nach der Landung nicht in dem Tumult der ganzen, den Gang versperrenden Touri-Meute und Erstflieger-Omis steckenbleibt. Profi eben. Er nimmt neben einem Herrn Platz, der auf seinem Laptop eine Powerpoint Präsentation durchgeht, bunte Diagramme mit bunten Schlagworten. Kurzes gegenseitiges Zunicken. Jens zückt sein Handy und ruft mit vernehmbarer, selbstbewusster Stimme Nora in der Firma an, um ihr Anweisungen für den Entwurf zum Frankreich-Angebot zu geben, die Ausschreibung muss nochmal gegengelesen werden von Thomas oder dann eben meinetwegen von Sören, nicht dass wieder wichtige Details übersehen werden wie beim Schweiz-Tender letztes Jahr. Übermorgen in seinem Email-Eingang. Die Stewardess weist ihn höflich, aber bestimmt darauf hin, dass Handy auszuschalten. Er sieht sie kurz mit einem dürren, mitleidsvollen Lächeln an, deutet Zustimmung an und redet weiter auf Nora ein, dass das Birkenstockgeschwader in der Entwicklung noch mal getriggert werden muss, damit das neue PPQ-Feature dieses Quartal fertig wird, das ist bereits verkauft. Die Stewardess kommt von ihrem Check-Durchgang zurück, baut sich demonstrativ vor Jens auf und bedeutet ihm – auch für Nora hörbar -, dass für den Start alle Handys ausgeschaltet sein müssen, zwischen den Zeilen sagt ihr Ton: solange Sie nicht das Gespräch beenden, starten wir nicht. Was sich diese Pute einbildet. Jens teilt Nora noch mit, dass er übermorgen wieder im Büro ist, bis dahin aber natürlich auf dem Handy erreichbar, der Termin heute ist um 13 Uhr. Ja tschüss. Die Stewardess zieht ab und geht weiter ihrem Dienst nach. Jens schaltet das Handy aus, lehnt sich zurück und wartet auf den Kaffee und das Croissant.
Vogt Hochstetter hat zur gleichen Zeit alle Hände voll zu tun. Er ist Ramp-Agent, heute Frühschicht am Gate B16 und fertigt die A320 für den Flug nach Hamburg ab. Die Papiere mit den letzten Updates hat er mit ein paar kollegialen Worten im Cockpit abgegeben, die Tür der Maschine ist bereits geschlossen, der Rüssel bereits zurückgefahren. Vogt steigt die federnde Seitentreppe neben dem Faltenbalg der Passagierbrücke hinab auf den Beton des Vorfelds. Fliegen. Das war mal sein Traum. Vor vier Jahren hatte er eine Pilotenausbildung angefangen, war schon soweit, dass er die ersten großen Maschinen im Simulator fliegen durfte. Eine wirklich teure Ausbildung, 12.000 Euro hatte er bis zu dem Zeitpunkt bereits gezahlt, aber es war nun mal sein Traumjob und er hatte beste Aussichten auf eine Anstellung und eine gute Bezahlung. Dann kam die Pandemie und der Flugverkehr wurde von heute auf morgen auf unbestimmte Zeit eingestellt. Um die wenigen Frachtflüge schlugen sich die erfahrenen Piloten mit der passenden Typenzulassung. Niemand brauchte Pilotenschüler. Die Schule bot den angehenden Piloten an, die Ausbildungsverträge „kostenneutral“ zu stornieren, was so viele bedeutete wie: die noch ausstehenden Kosten werden gestundet, die bereits gezahlten Beträge sind futsch. Oder in der Sprache der Schule: „Die den bereits geleisteten Zahlungen gegenüberstehenden Ausbildungsleistungen sind ja erbracht worden.“ Vogt hatte keine Perspektive gesehen, er nahm das Angebot der Schule an. Dann stand er vor dem Nichts. Um wenigstens irgendetwas Vernünftiges mit seinem sonst nutzlosen Wissen anzufangen, richtete er einen eigenen Youtube-Kanal ein, im dem er für seine wachsenden Gemeinde von Followern Sequenzen auf dem Flugsimulator durchspielte. Er beschaffte sich dafür immer die neusten Updates mit Verkehrsflugzeugen-Typen, führte ganze Flüge durch mit Abfertigung, Kommunikation mit dem Tower, Start, Flugleitsystem und Landung. Seine Fans waren begeistert, so tiefe Einblicke von einem Experten zu erhalten und spendeten auch hier und da 5 Euro oder 20 Euro, so dass tatsächlich auch etwas Geld in die Kasse kam. Nach der Pandemie wurden schlagartig Mitarbeiter für alle Bereiche am Flughafen gesucht, Servicekräfte für den Bodenverkehrsdienst, darunter auch Ramp-Agents. Das war für Vogt die Gelegenheit, sein Wissen und seine Liebe zur Fliegerei mit einer regelmäßigen Einnahmequelle zu verbinden. Schweren Herzens natürlich, denn es ist offensichtlich ein gewaltiger Unterschied, ob man fliegt oder am Boden bleiben muss. Dazu der Schichtdienst. Aber alles in allem „immerhin etwas“, wie seine Großmutter sagen würde. Er konnte ihr nun auch das Geld, das sie ihm in der schwierigen Zeit immer wieder zugesteckt hatte, zurückgeben. Und nun, A320 nach Hamburg. Es riecht geradezu aufdringlich nach Kerosin. Single Man Pushback, zügig und effizient. Vogt zieht die derben Handschuhe über für das Handhaben der Schleppstange. Routiniert windet er sich aus dem orangen Spiralkabel für die Sprechverbindung mit seinem Kabel-Headset. Die leuchtend orangefarbene Sicherheitskleidung sperrt sich gegen flüssige Bewegungen beim Besteigen des Schleppers. Mit dem Auslesen des Easy Keys für Betriebsfreigabe des Schleppers wartet er auf das Go vom Piloten. Nach einer knappen Ansage aus dem Cockpit führt Vogt den Pushback der A320 durch, bis die Maschine auf dem Taxiway jenseits der roten Linie steht. Er lässt das Vorderrad des Fliegers vom Haken, setzt den Schlepper ein Stück zurück und geht zur Maschine, um das Sprechkabel unterhalb der Nase der Maschine abzuziehen. Als er schon auf dem Rückweg ist, entdeckt er einen Metallwinkel auf der Rollbahn, nichts, das mit den Reifen seiner Maschine in Berührung kommen sollte. Er weiß, dass er von den festgeschriebenen Abläufen abweicht, aber es sind nur ein paar Meter, die Maschine steht ja noch im Leerlaufschub und alle anderen Möglichkeiten bedeuten endlose Prozeduren: Maschine informieren, Ground Control informieren, warten auf Freigaben und und und.
Im Cockpit greift der Kopilot routiniert nach seiner Sonnenbrille, da die Maschine in südöstlicher Richtung steht und er vis-a-vis in die Sonne blickt. Hat der Walk-Out Assistant seinen Final Handshake gegeben? Ground Control gibt Rollfreigabe, Runway 2A. Über Ground-Kommunikation ist der Walk-Out Assistant nicht mehr zu erreichen, das Kabel ist abgezogen. Ein kurzer Rundblick. Der Kapitän gibt Abrollschub. Vogt hat den gratigen Metallwinkel gegriffen und geht gebückt zügig rückwärts, hält die vier Meter sechsig Abstand zur Engine ein, als die Turbinen plötzlich auf Abrollschub hochdrehen. Er wird sich der Gefahr noch bewusst, als er bereits mit Gewalt gepackt wird und Hals über Kopf in den Fan des niedrigen Turbineneinlaufs geschleudert wird. Sein letzter Gedanke gilt Shadow, seinem Hund, der zu Hause auf ihn wartet. Die Schaufelblätter des Fan zerschlagen Vogt in mehrere Teile, von denen einige in den Mantelstromkanal des Triebwerks gedrückt werden, ein Arm und ein Teil eines Beines wird in die Verdichterstufe geschleudert und dort in Sekundenbruchteilen von den schnellen kurzen Turbinenblättern zerhäckselt. Die blutige Masse schießt in die Brennkammer und würgt dort sofort die Verbrennung ab. Im Cockpit springen alle Warnleuchten des rechten Triebwerks an. Mit einem Ruck dreht die Maschine nach rechts, die Turbine läuft kraftlos aus. Der Pilot bringt das rollende Flugzeug sofort abrupt zum Stehen. Er ist sich auf eine grauenvolle Weise sicher, was da passiert ist. Er unterrichtet sofort Ground Control, dass ein unklarer Fehler am Triebwerk vorliegt und der Rollvorgang abgebrochen wird. Nach kurzem Zögern fügt er hinzu, dass Personenschaden nicht ausgeschlossen. Ground Control bestätigt und weist den Piloten an, die Triebwerke zu stoppen, die Maschine durch Feststellbremsen zu sichern und auf das Eintreffen des Sicherheitspersonals zu warten.
In der Passagierkabine hat man ein leichtes Rucken gespürt und nun werden die Turbinen abgeschaltet, nur die Hilfsturbine am Heck ist noch zu hören, wenn man sich darauf konzentriert. Jens öffnet die Augen und blickt an seinen beiden Sitznachbarn vorbei aus dem Kabinenfenster. Eine A380 bewegt sich aufreizend gelassen auf ihrer Startbahn, beschleunigt eine Ewigkeit, bis sie mit dem Bugrad endlich in die Luft geht und wie ein Walfisch gemächlich aufsteigt. Durchsage vom Captain: technischer Defekt, Flug ist abgebrochen, wir warten auf Sicherheitspersonal. Wiederholung auf Englisch in das kollektive Aufstöhnen der Passagiere hinein. Geistesgegenwärtig startet Jens sein Handy, das dauert und dauert bis er seine PIN eingeben kann. Er wählt Noras Nummer und als sie abnimmt, weist er sie knapp an: Flug storniert, ja schon auf dem Rollfeld, technischer Defekt, Umbuchen, aber ASAP, egal, nur schnell. Sie ruft zurück, wenn sie was hat. Eine Stewardess meldet sich über die Lautsprecher, sofort verstummen die tausend aufgeregten Ausrufezeichen, die in der Kabine umherschleudern: „Anschlussflug!“, „Aussteigen!“, „natürlich!“, „Informationen!“, „ans Gate!“. Sie bittet, angeschnallt sitzen bleiben und: wir informieren Sie natürlich sobald wie möglich über das weitere Vorgehen. Jens grübelt darüber nach, mit dem Einschalten der Turbinen gilt der Flug seines Wissens als begonnen, da stehen ihm dann eigentlich die Meilen für dieses Ticket zu. Die uniformierten Trullas lassen sich natürlich nicht blicken. Er blickt auf die Uhr und wieder zum Kabinenfenster hinaus. Dann wieder auf die Uhr. Nora soll endlich in die Puschen kommen.
Nach knapp drei Minuten kommen zwei Fahrzeuge der Bundespolizei, ein Rettungswagen und ein Transporter der Flughafengesellschaft und halten in Rufweite der Maschine. Es sind keine langen Erklärungen erforderlich, man sieht sofort, was passiert ist. Blutige Teile von Vogts Torso sind aus dem Einlaufbereich der Turbine auf den Beton gefallen. Irgend etwas undefinierbares hängt noch im Schaufelrad. Ein Kollege der Flughafenmannschaft dreht sich um, rennt mit blassgrünem Gesicht ein paar Meter und übergibt sich. Die anderen nähern sich, geben ein Zeichen in Richtung Cockpit, der Kopilot nickt zurück. Der Einsatzleiter der Polizei spricht ununterbrochen in sein Funkgerät, das zwischendurch ein sanftes Rauschen hören lässt, hin und wieder zerfetzt von einem unangenehmen Krachen. Ohne von seinem Funkgerät abzulassen, weist der Einsatzleiter die Umstehenden mit einer raumgreifenden Armbewegung an, so schnell wie möglich eine blickdichte Umzäunung aufzustellen. Er zeigt auf die Fensterfläche der Abfertigungshalle, hinter denen sich Schaulustige drängen. Man telefoniert mit der Sicherheitszentrale, mit dem Bereitschaftsdienst der technischen Dienste, ja, einen Sichtschutz können wir machen, dauert aber einen kleinen Moment. An den Fenstern der benachbarten Gates werden die Menschen bereits von Sicherheitsleuten zurückgedrängt. Der Rettungssanitäter und der Notarzt beugen sich ratlos über Vogts Überreste.
Nora ruft zurück, endlich, Mensch. In einer halben Stunde, ja kann ich schaffen. Sag bitte beim Kunden Bescheid, ein Dr. Lineaus, Nummer ist im System. Melde mich. Jens schnallt seinen Gurt ab und geht unter den fragenden Blicken aus den Sitzreihen nach vorn in die Pantry, wo zwei Stewardessen auf ihren Sitzen mit dem Rücken zur Flugrichtung angeschnallt sind. Eine der beiden schnallt sich ab, steht auf und fragt zuvorkommend, wie sie helfen könne. „Ich muss ganz dringend auf meinen Flug. In zehn Minuten. Ich habe umgebucht. Ich muss aussteigen. Jetzt!“ Die Stewardess erklärt ruhig, dass das nicht geht und dass Jens sich wieder auf seinen Platz setzen und sich anschnallen soll. Es wird alles Notwendige unternommen, versichert sie. Jens bleibt ganz der verständnisvolle aber bestimmte Vorgesetzte, wie er es im Kommunikationstraining gelernt hat. Zuviel Druck erzeugt nur unnötige Reibung. Geradezu sanft, als spräche er zu einem Kind, wiederholt er sein Anliegen, anderer Flug, Eile, Aussteigen. Jetzt. Die Stewardess wiederholt in ruhigem Ton beharrlich: hinsetzen, anschnallen. Von dieser Kuh lässt er sich doch nichts sagen! Er will den Captain sprechen. Das geht nicht. Jens wird laut. Die zweite Stewardess stellt sich demonstrativ neben ihre Kollegin. Jens befiehlt mit voluminöser Stimme, ihn von Bord zu lassen. Vielleicht schließen sich ihm noch weitere Passagiere an, wenn sie mitbekommen, was er vorhat? Er versucht es mit Einschüchterung: Ist die fahrbare Gangway unterwegs? Andernfalls ist das Freiheitsberaubung, was Sie hier mit ihm machen. Das wird ein Nachspiel haben! Die Stewardessen stehen wie eine Wand vor Jens, sie lassen seine Anwürfe einfach abtropfen. Sie fordern ihn gebetsmühlenartig auf: bitte hinsetzen und anschnallen. Da kommt ein weiterer Passagier aus der Businessklasse, aber der kommt nicht, um Jens zu unterstützen. Setzen Sie sich halt wieder hin, wie wir alle hier auch. Der ist groß, hat eine gewaltige Bassstimme wie ein Opernsänger und macht nicht den Eindruck, als würde ihn so schnell etwas aus der Fassung bringen. Jens sitzt in der Falle: Wie kommt er hier ohne Gesichtsverlust wieder raus? Er zückt sein Handy und während er zurück zu seinem Platz rudert, ruft er nochmal, für alle gut hörbar, Nora an: der Dr. Hierlanger, ist der im Haus? Ich habe hier ein juristisches Problem, ja, Freiheitsberaubung, ich brauche seinen Rat. Dringend ja. Ja, soll mich anrufen.
Draußen baut man inzwischen aus mit Folien bespannten Gittern an einem Blickschutz um das rechte Triebwerk der Maschine herum. Die Kollegen versuchen, bei ihrer Arbeit nicht in Richtung des Unglücks zu blicken. Der Einsatzleiter der Bundespolizei verhandelt mit dem Sicherheitschef des Flughafens wegen der Evakuierung der Passagiere. Bezüglich Beweissicherung wäre das aus seiner Sicht kein Hindernis. Die Maschine darf nicht bewegt werden und das fliegende Personal darf sich nicht vom Unfallort entfernen. Der Flugschreiber und der Voicerecorder sind beschlagnahmt. Ground Control meldet, eine fahrbare Gangway ist unterwegs und man erteilt Freigabe für das Aufstellen an der hinteren Kabinentür. Der Weg von der Maschine zurück zur Treppenhaustür des Gates wird mit Pylonen abgesteckt. Personal steht zur Sicherung entlang der Strecke. Ein Mitarbeiter der Sicherheit bittet zu prüfen, ob der Blick auf den Unfallort definitiv versperrt ist. Die Stewardess im Heck der Maschine öffnet die hintere Kabinentür, das Heulen der Hilfsturbine dringt plötzlich deutlich in die Kabine, während der Flugkapitän die Ansage mit den Anweisungen für den Ausstieg macht. Wie auf ein Kommando ist der Gang der Kabine verstopft mit Passagieren, die über ihren Köpfen mit den Gepäckfachklappen, Taschen, Jacken und Koffern hantieren. Jens erkennt, dass das ewig dauern wird und geht nach vorn zur vorderen Tür in der Hoffnung, dass dort vielleicht doch eine zweite Gangway steht. Die beiden Stewardessen sind fort, sie helfen den Reisenden mit den Gepäckstücken. Die vordere Kabinentür ist zu, keine Gangway. Es ist zum Verzweifeln. Jens schaut auf seine Uhr, jetzt wird es eng. Er telefoniert mit Nora, sie soll am neuen Gate anrufen, dass er unterwegs ist. Dann beginnt er sich durch das Knäuel von Menschen und dass Gewölle von Taschen zu drängeln. Unverständnis und Kopfschütteln, ironische oder einfach nur böse Bemerkungen ignoriert er souverän, er hat einen Termin, er hat einen Flug. Nach einer Ewigkeit ist er an der Hecktür, stolpert fast auf den eisernen Stufen hinab auf das Rollfeld, rennt rempelnd an den Idioten vorbei, die offenbar alle Zeit der Welt haben, er keucht die Treppen hinauf, hastet atemlos zu seinem neuen Gate und erwischt gerade noch rechtzeitig seinen neuen Flieger. Hinter ihm wird die Tür geschlossen und verriegelt. Er geht wegen des großen Koffers seitwärts durch den engen Gang zu seinem Platz 22B unter den genervten und bewundernden Blicken der anderen Passagiere und lässt sich schließlich schnaufend auf seinen Sitz fallen, den Koffer auf seinem Schoß. Eine Stewardess kommt, lächelt ihn an und fragt, indem sie auf den Koffer zeigt: darf ich das für Sie versorgen? Sie darf. Jens tupft sich den Schweiß von der Stirn, der sofort wieder ausbricht. Wissen Sie, wendet er sich unbestimmt an seine Sitznachbarn, ich bin Vielflieger und einiges gewohnt. Aber seit das neue Terminal in Betrieb ist, arbeitet alles, was lesen kann und nicht zwei linke Hände hat, dort. Und die ganzen Invaliden und Selchukken hier, die kriegen es einfach nicht gebacken. Ich habe einen wichtigen Termin in Hamburg, wissen Sie? Durch das Kabinenfenster kann man in einiger Entfernung eine A320 auf dem Rollfeld stehen sehen. Jede Menge Leute dort, auch Blaulicht. Irgendwas ist da hinter einem Blickschutz. Die Maschine ruckt an, die Szenerie verschwindet mit dem Einschwenken auf das Rollfeld. Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän …