Sed Vitae
Auf dem Monitor sieht man eine lose verteilte Menschenmenge. Es werden selbstgemalte Schilder in die Höhe gehalten. Die Aufnahme ist mit der Handkamera gedreht und wackelt ein wenig bei jedem Schritt, den der Kameramann macht.
Eine Reporterin, die man nur zeitweise im Bild sehen kann, geht mit dem Mikrofon auf die eine und den anderen der Umstehenden zu und bittet um ein Gespräch: „Guten Tag, Deutsches Fernsehen, darf ich Ihnen eine kurze Frage…“
Die meisten angesprochenen Personen wenden sich wortlos ab, gehen weiter, manche rufen zuvor noch „Lügenpresse!“ in die Kamera. Mehrere Versuche, mit einer Person ins Gespräch zu kommen, scheitern. Die Kamera sucht in verschiedenen Richtungen, immer wieder verlassen die Menschen das Blickfeld, wehren die Aufnahmen mit der erhobenen Hand ab, bedecken ihr Gesicht.
„Hallo? Bleiben Sie doch mal stehen! Deutsches Fernsehen, eine kurze Frage…“ Die angesprochene, untersetzte Frau mit kurzen, blonden Haaren skandiert: „Lügenpresse! Lügenpresse!“
„Was für Lügen?“ fragt die Reporterstimme nach.
„Ihr seid doch alle gekauft! Lügenpresse!“
„Was für Lügen denn?“, beharrt die Reporterin.
„Millionen Tote durch die Coronaimpfungen! Keiner berichtet darüber!“
„Dann erzählen sie mir davon. Was für Tote? Woher wissen Sie davon?“
„Das weiß doch jeder. Jeder, der es wissen will, weiß das auch!“
Ein Gesicht eines jungen Mannes schiebt sich ins Bild: „Du bist doch auch nicht von hier! Kanake!“
Die Reporterin lässt sich nicht ablenken und befragt weiter die blonde Frau: „Können Sie mir eine Quelle nennen, über die ich mich informieren kann?“
„Da ist doch dieser argentinische Arzt. Im Internet.“
Wieder schiebt sich das Gesicht des jungen Mannes ins Bild: „Wir reden nicht mit dir! Geh dahin zurück, wo du herkommst!“
„Ich bin in Bielefeld geboren!“, versetzt die Reporterin und die Kamera schiebt sich an dem Mann vorbei.
Eine Gruppe skandiert: „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“
Die Reporterin lässt sich nicht beirren: „Es gibt sehr viele Ärzte, die anderer Ansicht sind, was die Impfungen gegen Covid-19 betrifft. Warum glauben Sie dem einen Arzt, den anderen aber nicht?“
„Die wissen doch selber nicht Bescheid. Mal sagen sie so, dann so. Die sind doch alle gekauft!“
„Wie kann man denn so viele Ärzte kaufen?“, hinterfragt die Stimme der Reporterin, „Besucht man die dann alle? Gibt man denen dann Bargeld, damit die Beträge nicht nachverfolgbar sind?“
Die Kamera wackelt heftig, man sieht kurz schemenhaft einen älteren Mann. „Redense nicht mit denen!“, schnarrt eine Stimme und: „Se sind doch Türkin! Na wartense, wenn wir mal am Ruder sind, dann sindse vorgemerkt!“
„Ich bin Deutsche, genau wie Sie!“, antwortet die Reporterin ruhig, aber bestimmt.
„Wer Deutscher ist, bestimmen Sie nicht! Sie nicht!“, kommt es von der Seite.
Die Reporterin und die Kamera eilen der blonden Frau nach, die sich abgewendet hat und weitergehen will. „Bitte bleiben Sie doch noch einen Moment stehen. Es ist doch wichtig, dass wir miteinander reden!“ Die blonde Frau zögert einen Moment. „Ich würde sehr gerne ein Interview mit Ihnen machen, um Ihre Sicht der Dinge zu verstehen.“, macht die Reporterin einen weiteren Anlauf.
Zwei Männer drängen sich zwischen die blonde Frau und die Kamera und schimpfen: „Sie haben überhaupt kein Recht, uns hier zu filmen! Wir zeigen Sie an!“
Ganz offensichtlich versucht der Kameramann, den Störern vor der Kamera auszuweichen, die Reporterin hat sich bereits mit dem Mikro an denen vorbei gedrängt. Man hört sie mit der Interviewpartnerin reden, ohne sie zu sehen: „Sie müssen mich bitte schon überzeugen von Ihren Ansichten. Wir müssen miteinander reden.“
Man hört die Stimme der blonden Frau: „Auch die ganzen Ausländer. Die vergewaltigen hier die Frauen und Kinder und davon kommt nichts in den Nachrichten, das wird alles totgeschwiegen!“
„Haben Sie Kenntnis von Vergewaltigungen? Wissen Sie Details?“ Das Kamerabild kommt heftig ins Schlingern, man sieht für einige Momente nur den Straßenbelag.
„Da in Köln! Diese Sache an Silvester! Und in Berlin, da in dem Park. Und überhaupt.“
„Haben Sie den Eindruck, dass solche Vorfälle nicht ausreichend von der Polizei verfolgt werden?“
„Abschieben soll man die alle. Was machen die denn hier? Kriegen Geld, handeln mit Drogen. Unsereiner muss hart arbeiten für das bisschen Geld und die kommen einfach her und…“, die Frau bricht ab.
„Darf ich fragen, was Sie arbeiten?“
„Friseurin. Aber nur auf 520 Euro. Und Frühschicht im Backshop. Daneben mach ich manchmal Aushilfe bei Hermeier am Band.“
Das Kamerabild richtet sich wieder auf und der ältere Mann ist zu sehen, man hört seine Stimme nur entfernt: „Links-grün versiffte Bande, der öffentliche Rundfunk. Von unserem Geld!“ Hinter ihm steht ein Jugendlicher, der offenbar den Kameramann mit seinem Handy filmt.
Der Bildausschnitt bewegt sich auf die Reporterin zu, die einige Schritte entfernt steht und das Mikrofon der Gesprächspartnerin entgegenstreckt: „Wenn man die Ausländer ausweist, glauben Sie, dass Sie dann eine bessere Arbeit bekommen mit einem höheren Verdienst?“
„Hier gibt es ja nichts. Ist ja alles kaputtgemacht worden nach der Wende. Blühende Landschaften!“, die Frau lacht kurz höhnisch auf.
„Redense nicht mit denen! Die drehen Ihnen das Wort im Mund um!“, der ältere Mann ist der Kamera gefolgt und redet auf die blonde Frau ein, die er am Oberarm fasst: „Lügenpresse! Glaubense bloß nicht, dass die sich für Se interessieren!“ Die Angesprochene hebt abwehrend den Arm und drängt den Alten ein Stück von sich weg.
„Es gibt doch viele neue Industrieansiedlungen, schon seit einigen Jahren. Finden Sie nicht, dass es langsam bergauf geht mit ihrer Region?“, fragt die Reporterin und hält das Mikro noch etwas näher an die Gesprächspartnerin.
„Ich bin jetzt fünfundvierzig. Mich nimmt doch keiner mehr. Wenn man jung ist und sich so mit Computern auskennt und so. Aber die Jungen sind doch alle weg, in die Stadt, in den Westen.“
„Mit fünfundvierzig Jahren sind Sie doch noch nicht zu alt für eine Umschulung. Reizt Sie das nicht, etwas Neues zu beginnen?“
„Da isse!“, grölt es von der Seite, mehrere Stimmen rufen laut durcheinander. „Ausländer raus! Deutschland den Deutschen!“, „Lügenpresse“, „Haut ab!“ „Ihr habt kein Recht, hier zu filmen!“
Die Reporterin dreht dem Tumult den Rücken zu, um das Mikro akustisch abzuschirmen. Man sieht im Kamerabild die blonde Frau, wie sie die Schultern zuckt: „Ich hab schon so oft neu angefangen, die ganzen letzten Jahre. Ich hab keine Kraft mehr. Um uns kümmert sich doch keiner da oben. Da kannst du hier rumkrabbeln wie du willst, du kommst auf keinen grünen Zweig.“
„Was müsste denn die Politik anders, besser machen?“ fragt die Reporterin mit deutlich lauterer Stimme, um die Störungen zu übertönen, die immer noch undeutlich im Hintergrund hörbar sind.
Sie wartet einen Moment auf eine Antwort: „Früher, die Mutti, die hatte ihre Arbeit in der Blechstanze, wir konnten keine großen Sprünge machen, aber wir waren zufrieden. Mehr will ich jetzt auch nicht. Die großen Konzerne, die wollen doch gar keine Arbeiter mehr. Je mehr die entlassen, je mehr Millionen kriegen sie in die Taschen gestopft! Das ist doch alles nicht gerecht!“
Das Kamerabild wackelt erneut, fängt sich für einen Moment, gerät dann ins Trudeln. Das Bild löst sich in Griesel auf, es ist nur noch der Ton hörbar, die Stimme der Reporterin: „Können Sie sich vorstellen, sich in einer Partei für mehr Gerechtigkeit zu engagieren?“
Die andere Stimme antwortet: „Das bringt doch nichts. Das kungeln die doch da oben alles hinter verschlossenen Türen aus. Die warten gerade auf mich.“
„Haben Sie Kinder? Wollen Sie nicht für Ihre Kinder eine bessere Welt schaffen?“ „Eine Tochter.“
Das Kamerabild kommt nach kurzen streifenförmigen Störungen wieder und zeigt die Reporterin mit ihrer Interviewpartnerin, im Hintergrund werden Fahnen geschwenkt.
„Was sagt Ihre Tochter denn zu der Situation?“
„Die geht noch zur Schule, macht gerade Abitur. Die soll was lernen, die soll es mal besser haben. Das ist doch der einzige Weg, lernen, lernen, lernen.“
Ein Mann mit einem Security-Aufdruck auf der schwarzen Jacke erscheint plötzlich kurz im Bild, hält dann die Hand vor die Kameralinse und ruft: „Die Veranstaltungsleitung untersagt Ihnen, hier zu drehen. Machen Sie sofort die Kamera aus! Kamera aus! Jetzt! Machen Sie die Kamera aus!“ Das Bild wackelt. Man sieht noch kurz, wie die Reporterin von einem zweiten Securitymann abgedrängt wird. Dann wird das Bild auf dem Monitor schwarz, der Beitrag ist beendet.
Martinek wirbelte einen Bleistift zwischen den Fingern und beendete als erster das Schweigen: „Was machen wir jetzt damit?“
Die Jacobi lehnte sich in dem spartanischen Stuhl zurück: „Die Bildqualität ist unterirdisch. Dann, sorry Shengül, jede Menge handwerklicher Fehler, geschlossene Fragen, persönlich involviert …“
„Was genau meinst du?“, fragte Martinek nach.
„Na, durch die Anfeindungen. Dann der Satz ‚Sie müssen mich überzeugen‘ … “ , sie blickte auf ihren Notizblock, „bei fünf siebendreißig“
„Das hier ist kein klassisches Interview. Nichtmal eine stinknormale Straßenbefragung.“, Martinek sah Shengül direkt an: „Das ist ein gelungenes Schlaglicht auf den Diskurs, ein Zeitdokument. In dieser Situation zu einem Gespräch zu kommen, finde ich bemerkenswert.“
„Für ein Nachrichtenformat nicht zu gebrauchen.“, stellte die Jacobi klar, indem sie sich vorbeugte und mit der Hand eine imaginäre Linie auf der Tischplatte zog, „Als Archivmaterial?“
Shengül schaute nachdenklich von der einen zum anderen.
Martinek rieb sich das Kinn: „Da gibt es doch dieses neue Format Zeit und Zeuge, was wir auch für die Schulen als Unterrichtsmaterial anbieten. Da könnten wir das hier“, der Bleistift deutete auf den dunklen Monitor, „doch prima verwenden, genauso wie es ist, gar nicht nachbearbeiten, einfach authentisch.“
Die Jacobi nickte nachdenklich: „Ja, das könnte passen. Gute Idee!“ Sie begannen, den Plan zu diskutieren.