wie g. aus der tugend eine not machte
eines morgens erwachte g. und stellte fest, dass er steuerfachgehilfe geworden war. ihm wurde schmerzhaft bewusst, welch grotesken anblick er bieten musste, wenn er mit seiner abgewetzten aktentasche in der überfüllten u-bahn zur arbeit fuhr, neben bier trinkenden punks mit offenen beinen, aus denen ein wässriges sekret nässte, und frivolen schülerinnen, die ihm ihre rosa höschen unter den hochgerutschten röckchen präsentierten. sein leben erschien ihm verwirkt zwischen der sofortabschreibung von geringwertigen wirtschaftsgütern für kleingewerbetreibende und der steuerlich begünstigten aufwendung für die beseitigung von umweltbelastungen bei konkreter gefährdungslage. keine wirkliche schöpfung seines geistes oder seiner hände würde ihn überdauern, er verstand nichts von kovarianter quantisierung, kannte nicht das chinesische schriftzeichen für „legasthenie“, das einzige instrument, das er beherrschte, war eine kindertrompete, er war auch zu unbegabt für jede art von mugo-schnitz, wie er bildende darstellungen der mutter gottes abkürzend nannte. nur einmal hatte er sich als kind einen speer gebastelt, um damit eine ratte aufzuspießen und sie anschließend zu häuten, weil er kurzzeitig plante, in das kürschnergeschäft einzusteigen. die ratte war jedoch ganz offensichtlich zu schlau für ihn.
er rechnet im kopf nach, dass er noch gut zweiunddreißig jahre an seinem schreibtisch im großraumbüro sitzen würde zwischen roten schwarten mit den titeln fzulg, invstg und ustdv. in seiner verzweiflung betrachtete g. sich im spiegel: was, bitte sehr, sollte nun werden? aus einer kiste hinten im kleiderschrank kramte er eine nylonstrumpfhose heraus und zog sie an, darüber die kurze, etwas eng gewordene hose. statt sich zu rasieren, schminkte er sich ungeschickt die lippen über dem stoppeligen kinn flammend rot. der bh, den er sich überzog, war zu weit und zeigte seine spärlichen brusthaare. er schlüpfte in seine hellbraunen herrenhalbschuhe, hängte sich die kindertrompete um und verließ die wohnung.
in der u-bahn nahm niemand sonderlich notiz von ihm. Nur eine ältere dame mit einem blindenabzeichen am kragen betrachtete ihn einen moment länger, als es angemessen gewesen wäre, und zwei christliche eiferer an der treppe zum ausgang, wo es leicht nach urin roch, drückten ihm einen flyer in die hand, der für die rückweisung von flüchtenden warb.
vor dem eingang zur steuerkanzlei, in der er die nächsten zweiunddreißig jahre erwartet wurde, lehnte er sich an die hauswand und stellte einen alten, zerknickten kaffeebecher vor sich, dann blies er abwechselnd in die trompete und zitierte einige absätze aus der gewerbesteuerdurchführungsverordnung, soweit sie ihm im gedächtnis haften geblieben waren. seine kollegen kamen nach und nach zur arbeit, passierten ihn, ohne ihn anzusehen, geschweige denn, zu erkennen. der eine oder andere warf eine münze in den becher, aber nur braungeld, das ohnehin in den taschen störte.